»Ich habe Angst.«
»Noch einen Schritt, Susanne«, wiederholte er.
Zitternd hob sie ihren Fuß an.
»Nein!«, schrie sie laut auf, als sie vom Stamm abrutschte.
»Es ist alles gut.« Leonhard hatte sie an beiden Händen gepackt, zog sie mit einem kräftigen Ruck auf seine Seite der Schlucht und nahm sie in seine Arme. Ihr Herz schlug rasend schnell, und er streichelte über ihren Rücken, bis sie sich beruhigte.
»Ich hatte solche Angst«, flüsterte sie.
»Ich auch«, gestand er ihr nun ein. Er hatte unwillkürlich an den Kletterunfall vor einem halben Jahr denken müssen, der seine Mutter das Leben gekostet hatte.
»Bis zur Hütte sind es nur noch ein paar Minuten, dort sollten wir uns erst einmal von unserem Schreck erholen.«
»Müssen wir noch eine Schlucht überqueren?«
»Nein, der Weg ist jetzt ganz leicht«, versicherte er ihr und nahm sie an die Hand.
Susanne fühlte sich noch wie betäubt. Sie schaute nicht zur Seite und schon gar nicht zurück. Ihr war bewusst, dass Leonhard ihr soeben das Leben gerettet hatte, und sie zweifelte nicht daran, dass sie sich seiner Führung blind anvertrauen konnte.
Wie er es gesagt hatte, war der Weg nun ganz leicht, bald traten sie aus dem Schatten der Bäume heraus und standen auf der Alm, einem riesigen Plateau mit blühenden Wiesen, die sich zwischen dem Abgrund und den kahlen Gipfeln ausbreiteten. Die aus dunklem Holz erbaute Hütte war von einer Veranda umgeben, die mit Pfählen in der Erde befestig war.
»Ich werde nachsehen, was wir an Vorräten haben. Willst du mit reinkommen?«, fragte er Susanne, die noch immer ganz blass war.
»Ich bleibe lieber hier draußen, die frische Luft beruhigt meine Nerven«, sagte sie.
»Gut, dann bis gleich.« Leonhard zog die Tür zur Hütte auf, die jedem Wanderer, der Schutz suchte, offenstand und um deren Bevorratung sich der Imker kümmerte, der auch für ihre Bienen verantwortlich war.
Susanne setzte sich auf die Bank, die an der Wand der Hütte befestigt war, und legte die Arme auf den klobigen Holztisch. Ich muss dieses Erlebnis schnell wieder aus dem Kopf bekommen, dachte sie, während sie auf die friedlichen Dörfer im Tal hinunterschaute.
Als sie das Brummen der Bienen hörte, die mit Nektar beladen in ihre Stöcke zurückkehrten, stand sie auf und ging zu den Bienenkästen. länger sie den Bienen zuschaute, umso ruhiger wurde sie. Es war alles gut, ihr war nichts passiert. Für einen kurzen Moment dachte sie wieder an die Frau, die sie am Morgen beinahe angefahren hatte. Mein Schutzengel ist heute ziemlich gefordert, dachte sie. »Deine Vorfahren haben einen traumhaft schönen Platz für ihre ersten Bienenstöcke ausgewählt«, sagte sie, als Leonhard nach einer Weile zu ihr kam.
»Das sehe ich auch so. Wie fühlst du dich?«
»Es geht mir wieder gut. Danke, dass du so entschlossen gehandelt hast.«
»Ich habe dich nur ein wenig unterstützt.«
»Nein, nicht nur ein wenig. Ohne dich wäre ich auf diesem Baumstamm erstarrt.«
»Du hast es geschafft, das ist alles, was zählt. Aber ich denke, wir sollten heute nicht mehr zurück ins Tal gehen. Bergab ist der Fußmarsch noch unwegsamer, und auf dem Traktorpfad wären wir mehrere Stunden unterwegs. Ich bin nicht sicher, ob wir es vor Anbruch der Dunkelheit ins Tal hinunter schaffen. Vorräte sind genügend da, wir hätten zu essen und zu trinken.«
»Einverstanden, bleiben wir hier«, stimmte Susanne Leonhards Vorschlag sofort zu. Sie war ganz froh, dass sie den Berg nicht gleich wieder hinunter steigen musste, egal ,auf welchem Weg. »Gehört zu den Vorräten auch Kaffee? Ich könnte jetzt eine Tasse vertragen.«
»Es steht schon eine Kanne draußen auf dem Tisch, ich dachte, eine Kaffeepause sollten wir uns auf jeden Fall gönnen.«
»Wenn ich nur für diese Bienen verantwortlich wäre, dann würde ich im Sommer hier wohnen«, sagte Susanne, als sie und Leonhard wenig später nebeneinander auf der Veranda saßen, den frisch gebrühten Kaffee aus hellblauen Steinguttassen tranken und die Nusskekse aßen, die Leonhard auf einen Teller gelegt hatte. »Allerdings würde ich erst einmal einen Kletterkurs belegen, um mich auf allen Wegen sicher bewegen zu können. Das sollte ich ohnehin tun, schließlich habe ich die Berge vor der Haustür, die ich auch erkunden möchte.«
»Vermisst du deine alte Heimat, den hohen Norden?«, fragte Leonhard.
»Ich vermisse meine Freunde, und manchmal fehlt mir das Meer, aber jetzt habe ich ja die Berge und glücklicherweise auch neue Freunde, und die, die mich vermissen, können mich jederzeit besuchen.«
»Wie hast du deine Leidenschaft für die Imkerei entdeckt?«
»Es war ein Besuch bei meinem Großonkel, damals war ich zwar erst zwölf, aber diese Ruhe, die er bei seiner Arbeit ausstrahlte, die hat mich nachhaltig beeindruckt.«
»Hast du deinen Onkel oft besucht?«
»Nein, nur zwei- oder dreimal. Meine Mutter hatte zu ihrem Onkel nie viel Kontakt, deshalb habe ich mich gewundert, dass er mir sein Haus und die Imkerei vererbt hat. Zumal meine Eltern jedem erzählt hatten, dass ich eines Tages unsere Bootswerkstatt übernehmen werde. Leider habe ich aber dafür überhaupt kein Geschick. Mein Vater hofft nun darauf, dass ich ihm ein Enkelkind schenke, das in seine Fußstapfen tritt, damit die Werkstatt in der Familie bleibt.«
»Du sorgst dafür, dass die Imkerei in eurer Familie bleibt.«
»Stimmt, ich bewahre auch ein Stück Familientradition.«
»Ich bin froh, dass dein Onkel dich zur Erbin auserkoren hat. Sonst hätte ich dich vermutlich nie kennen lernen dürfen, und das würde ich sehr bedauern.«
»Warum? Weil ich so gut im Öffnen von Türschlössern bin?«
»Ja, darin bist du wirklich gut«, antwortete er und betrachtete sie mit einem langen Blick.
»Was denkst du gerade?«, wollte Susanne wissen.
»Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon lange kennen.«
»Wir haben zusammen dein Honiglager geöffnet, eine Tagesproduktion Honig geschleudert und abgefüllt, wir waren zusammen im Biergarten, sind durch deine Rapsfelder gelaufen, sind über das Tal geflogen, einen Berg hinaufgestiegen und du hast mir das Leben gerettet. Ich finde, das klingt nach einer sehr langen Bekanntschaft«, erklärte Susanne lächelnd.
»Es klingt nicht nur so, es fühlt sich auch so an.«
»Ja, das tut es«, sagte sie und wich seinem Blick nicht aus.
»Wir sollten hineingehen. Die Sonne geht gleich unter, dann wird es kühl«, sagte Leonhard.
»Warte, noch einen Moment.« Fasziniert schaute Susanne zu, wie die Sonne gleich darauf den Himmel und die Berggipfel in rotgoldenes Licht tauchte.
Alles schien auf einmal so unwirklich, die Stille, die Weite und das grandiose Farbenspiel des Himmels. Erst als die Sonne am Horizont verschwand, spürte Susanne die Kälte, die allmählich den Berg einhüllte, und sie folgte Leonhard in die Hütte.
Ein geräumiger Raum mit zwei Betten, die über Eck an der Wand standen, ein Esstisch mit vier Stühlen, eine Küchenzeile mit Kühlschrank, Herd und Backofen. Die Holzdielen waren gefegt, und vor dem offenen Kamin lag ein flauschiger weißer Teppich. Es gab sogar ein kleines Bad, das mit modernen weißen Sanitärobjekten und schwarzen Armaturen ausgestattet war.
»Ganz so ursprünglich ist es hier nicht mehr. Wie die meisten Hütten verfügen auch wir inzwischen über Strom und Wasser«, sagte Leonhard, als Susanne sich erstaunt umsah.
»Das heißt, wir könnten uns auch etwas kochen.«
»Ja,