»Ich meine das Foto der beiden Frauen. Kennst du sie?«, fragte Harald.
»Die habe ich schon gesehen, allerdings sah sie da um einiges gestylter aus«, sagte Emilia und deutete auf Kendra.
»Die andere kennst du nicht?«
»Nein, noch nie gesehen, aber da es um den Absturz geht, nehme ich an, dass es die Frau ist, die dort wohnt und niemals das Haus verlässt.«
»Wer verlässt niemals das Haus?«, wollte Miriam wissen, die mit einem verbundenen rechten Daumen aus der Praxis kam.
»Die Frau, in deren Garten der Paraglider gestürzt ist«, klärte Emilia sie auf.
»Warum geht sie nie aus dem Haus?«, wollte Miriam wissen. Sie setzte sich zu den beiden auf die Bank und zupfte einen Fussel vom Rock ihres roten Kostüms. Harald, der in der Mitte zwischen ihr und Emilia saß, hielt die Zeitung so vor sich hin, dass sie alle drei gemeinsam hineinschauen konnten.
»Vielleicht ist einer der Gründe dafür diese Sache, die ihr vor etwa einem Jahr zugestoßen ist«, sagte Harald nachdenklich.
»Welche Sache?«, fragte Miriam.
»Sie hatte sich mit einem Richter zum Interview getroffen. Es hieß, dass er alkoholabhängig war und einige Fehlurteile auf seine Kappen gingen.«
»Hat er Leute unschuldig ins Gefängnis gebracht?«, wollte Emilia wissen.
»Einige, die Urteile sind inzwischen aber revidiert.«
»Was ist aus dem Richter geworden?«
»Er kandiert inzwischen für den Bundestag. Im selben Wahlkreis wie Edwin Kruse.«
»Edwin Kruse aus Bergmoosbach?«, fragte Miriam.
»Genau.«
»Dieser Richter hat Menschen unschuldig ins Gefängnis gebracht, und das hat ihm nicht geschadet«, wunderte sich Emilia.
»Doros Nachbarin hat unfreiwillig dafür gesorgt, dass man ihn wieder respektiert. Am Tag, nachdem sie sich zu diesem Interview mit ihm getroffen hatte, erschienen Fotos von ihr und dem Richter in einer Münchner Boulevardzeitung. Sie zeigten die beiden am Tresen einer Bar. Während er in eine andere Richtung schaut, gießt sie ihm Wodka in seine Limonade. Er hat behauptet, er sei damals bereits trocken gewesen und sie hätte ihn vorführen wollen. Er hätte nicht gewusst, was er da trank, und bekam einen Rückfall, hat er jedenfalls behauptet.«
»Warum hat sie das getan? Wollte sie eine aufregende Geschichte?«, fragte Emilia ungläubig nach.
»Sie hat behauptet, diese Fotos seien gefälscht. Sie hätte keine Wodkaflasche in der Hand gehalten, sondern ein Mikrophon. Das hat ihr aber keiner geglaubt. Die Zeitung hat ihr dann nahegelegt, sich einen anderen Job zu suchen.«
»Und der Richter als ihr Opfer hat Karriere gemacht.«
»So ist es«, stimmte Harald Miriam zu. »Jetzt erinnere ich mich auch wieder, wo ich diese Frau neben Fenja schon gesehen habe.«
»Ich bin gespannt. Es hat dich gestern ja schon beschäftigt, woher du sie kennst, nachdem sie mich beinahe umgefahren hat.«
»Du hattest einen Unfall?«, fragte Emilia erschrocken.
»Nein, glücklicherweise nicht, sie hätte mich nur fast mit ihrem Fahrrad gestreift«, beruhigte sie Miriam.
»Ich habe diese Frau in München gesehen, als ich mich mit Kruse vor dem Landtag getroffen habe«, sagte Harald.
»Als du wegen des Holzes für sein neues Haus in München, das er bei uns bestellen wollte, bei ihm warst.«
»Herr Kruse bestellt Holz bei euch, obwohl er in München wohnt«, wunderte sich Emilia.
»Er ist eben heimatverbunden. Seine Eltern, seine Geschwister, alle wohnen doch hier, und mit dem Herzen wohnt er auch noch hier, beteuert er stets aufs Neue«, erzählte Miriam.
»Diese andere Frau, diese Kendra«, sagte Harald, nachdem er ihren Namen unter dem Foto gelesen hatte, »sie hat mit Tanngruber, diesem Richter, auf einer Parkbank vor dem Landtagsgebäude gesessen. Sie hatten sich offensichtlich viel zu erzählen und haben sich mit einer freundschaftlichen Umarmung voneinander verabschiedet.«
»Kendra ist mit Fenja befreundet. Vielleicht wollte sie diesen Richter dazu bringen, dass er die Wahrheit sagt.«
»Möglicherweise«, schloss sich Harald Emilias Meinung an.
»Denkst du, Edwin Kruse hat überhaupt eine Chance gegen diesen Mann?«, wollte Miriam wissen, die sich nicht so sehr wie Harald für die Geschehnisse in der Bayerischen Hauptstadt interessierte.
»Ich denke schon. Kruse ist beliebt bei den Wählern. Er spricht ihre Probleme offen an und antwortet ehrlich auf ihre Fragen, auch wenn diese Antworten nicht immer angenehm sind. Aber gerade deshalb vertrauen ihm die Wähler.«
»Du solltest dich seinem Wahlkampfteam anschließen, das würde ihm sicher helfen«, sagte Miriam und klopfte Harald lachend auf die Schulter.
»Solltest du irgendwann für Berlin kandidieren, dann werde ich diesen Job übernehmen, vorher nicht.«
»Ich denke, mir reicht mein Sitz im Gemeinderat Bergmoosbach, mehr Politik will ich gar nicht. Lass uns gehen, ich habe in einer Stunde einen Termin mit einem neuen Kunden«, sagte Miriam.
Nachdem sie und Harald sich von Emilia verabschiedet hatten, liefen sie zur Straße hinunter und stiegen in Miriams gelben Sportwagen, den sie dort geparkt hatten.
»Eigentlich könnte ich mir Miriam ganz gut in der großen Politik vorstellen. Sie versteht es, andere mit ihrem Charme einzuwickeln, stimmt’s, Nolan?«, fragte Emilia, während sie den beiden nachschaute.
»Wuff, wuff«, machte Nolan, seine weise Antwort auf alle Fragen.
*
Am nächsten Morgen fuhr Kendra nach München. Ihre erneute Suche nach der Drohne war ebenso erfolglos verlaufen wie die erste. Ihre Hoffnung war, dass sie vielleicht nach ihrem Zusammenstoß mit dem Gleitschirm noch ein Stück weitergeflogen war, schließlich in den Sternwolkensee stürzte und nie wieder auftauchte. Oder sie war an einem Felsen zerschellt und ihre Filmaufnahmen waren für immer verloren, was ihr als die beste Lösung erschien.
Sie hatte beschlossen, in München eine neue Drohne zu besorgen, die sie aber nicht mehr von Fenjas Haus aus starten würden, um nicht erneut in Gefahr zu geraten, entdeckt zu werden. Sie hatte am Abend zuvor noch lange mit Fenja auf dem Balkon gesessen. In warme Decken eingehüllt hatte es sich dort aushalten lassen. Sie hatte ihr noch einmal eindringlich klar gemacht, dass Pascal nicht zu ihr passte. Als sie sich nach dem Frühstück von ihr verabschiedete, war sie sicher, dass sie sie davon überzeugt hatte, ihn zu vergessen.
»Ich wünsche dir eine gute Fahrt«, sagte Fenja, die sie noch zum Auto begleitete.
»Danke, ich bin dann übermorgen wieder bei dir. Ruhe dich aus und mute dir keine Aufregung zu, versprich mir das«, bat sie, bevor sie die Autotür schloss.
»Keine Aufregung, versprochen«, sagte Fenja. Sie ging zurück hinter die halbhohe Mauer, die ihr Grundstück einfasste, und schloss das weiße Holztor. Eigentlich habe ich mir aber ein wenig Aufregung gewünscht, dachte sie, während Kendras Auto aus ihrem Blickfeld verschwand. Dass sie Pascal nicht wiedersehen sollte, machte sie immer noch traurig, aber sie hatte Kendra recht geben müssen, die Gefahr, dass ein Treffen mit ihm sie in eine Depression stürzen könnte, war zu groß.
Ich muss mich ablenken, um ihn aus meinen Kopf zu verbannen, dachte sie und setzte sich an ihren Schreibtisch, um sich die nächsten Weisheiten für Glückskekse auszudenken. »Was mache ich jetzt?«, flüsterte sie, als ihr Handy läutete und Pascals Name auf dem Display aufleuchtete.
»Wäre es nicht schrecklich für dich, wenn er für dich nicht mehr als Mitleid übrig hätte oder vielleicht