»Stimmt, du bist hier, und darüber freue ich mich«, antwortete Fenja lächelnd. Als Kendra sie vor ein paar Wochen anrief, um sie zu fragen, ob sie sie besuchen dürfe, hatte sie ihr von der Reise ihrer Eltern erzählt. Kendra hatte sofort angeboten, solange zu ihr zu kommen. Sie musste Kendras Freundschaft nicht hinterfragen, ihr schien wirklich etwas daran zu liegen, dass sie sich nicht aus den Augen verloren.
»In der Küche steht das Essen, das ich im Bräustübel der Brauerei Schwartz für uns geholt habe. Kassler und Kartoffelsalat«, sagte Kendra.
»Du kannst mich anrufen, wenn du wieder auf dem Rückweg von der Klinik bist, dann wärme ich das Kassler auf.«
»Erwartest du jemanden?«, fragte Kendra überrascht, als es an der Haustür läutete.
»Nein, ich erwarte niemanden.«
»Soll ich an die Tür gehen?«
»Ich gehe schon«, sagte Fenja, weil sie sich nicht erlauben wollte, auch noch Ängste vor dem Öffnen der Haustür zu entwickeln.
»Guten Abend, mein Name ist Tobias Meier. Ich komme vom Bergmoosbacher Tagblatt«, stellte sich der junge Mann vor, der vor der Tür stand. »Sie sind Fenja Kirchner?«
»Was kann ich für Sie tun, Herr Meier?«, fragte Fenja freundlich. Sie war eine eifrige Leserin des Tagblatts und hatte schon häufiger ein Foto von Tobias gesehen. In Wirklichkeit schien er noch schlanker zu sein, als er auf den Fotos wirkte.
»Es geht um den Absturz des Paragliders«, sagte Tobias und wischte die blonde Haarsträhne aus seiner Stirn, die ihm auf den Rand seiner runden Brille mit dem hellblauen Rahmen gefallen war.
»Woher wissen Sie denn davon?«
»Der Krankenwagen heute Morgen hat bereits Fragen im Dorf aufgeworfen, und da wir recht gute Kontakte in der Gegend haben, die uns über Neuigkeiten informieren, haben wir von dem Absturz erfahren. Ich habe inzwischen auch schon mit Herrn Malen gesprochen. Offensichtlich hat er bisher keine Erklärung für den Absturz. Haben Sie eine?«
»Vermutlich war es ein Strömungsabriss«, mischte sich Kendra ein, die nun auch zur Tür kam.
»Und wer sind Sie?«
»Kendra Leistner. Fenja und ich haben uns um den Verunglückten gekümmert.«
»Wieso vermuten Sie einen Strömungsabriss?«
»Ich habe den Gleitschirm aus der Hecke geholt und zusammengelegt. Er war vollkommen intakt.«
»Soweit Sie das mit bloßem Auge beurteilen konnten.«
»Ein Loch oder so etwas wäre mir nicht entgangen. Meine Sehkraft ist hervorragend, wissen Sie«, sagte Kendra und schaute auf Tobias‘ Brille.
»Ich glaube es Ihnen, aber warten wir trotzdem erst einmal die genauere Untersuchung des Schirmes ab. Würden Sie mir erlauben, ein Foto von Ihnen beiden an der Absturzstelle zu machen?«
»Aber ja, natürlich«, sagte Kendra, als Fenja zögerte. Dieser Dorfreporter ist ein Geschenk, dachte sie. Das Foto würde beweisen, dass sie sich fürsorglich um einen Verletzten gekümmert hatte, und es würde keinen Zweifel daran lassen, dass sie noch immer mit Fenja Kontakt hatte, einer früheren Freundin, die tief gefallen war. Sie hatte Fenja auch damals beigestanden, als alle sie mieden. Niemand hatte es ihr verübelt, weil niemand von ihr verlangte, eine gute Freundin, deren Schuld niemals zweifelsfrei bewiesen werden konnte, zu ignorieren. Wer sollte jemals auf die Idee kommen, dass sie es war, die sie zu Fall gebracht hatte?
Das Wichtigste an diesem Besuch des Reporters aber war die Tatsache, dass sie als Absturzursache den Strömungsabriss erwähnt hatte. Sollte Tobias Meier ihre Vermutung veröffentlichen, dann war das ein großer Vorteil für sie. Die erste konkrete Aussage über eine ungeklärte Angelegenheit ließ sich nur schwer wieder ganz verdrängen, egal wie falsch sie auch sein mochte. Das hatte sie schon in den ersten Wochen bei der Zeitung begriffen.
»Verzeihen Sie, Frau Kirchner, sind Sie die Journalistin, die in Verdacht stand, Richter Tanngruber wieder in die Abhängigkeit getrieben zu haben?«, fragte Tobias, als Fenja offensichtlich noch immer zögerte, dem Foto im Garten zuzustimmen.
»Bitte, lassen Sie das. Oder wollen Sie, dass die Leute im Dorf Fenja brandmarken?«, stellte sich Kendra vor Fenja.
»Es war nur eine Frage. Ich werde diese Geschichte nicht erwähnen, das versichere ich Ihnen«, wandte er sich an Fenja, die mit den Tränen kämpfte. Tobias hatte an Tilo Tanngrubers Version dieser Geschichte schon immer gezweifelt, und jetzt, da diese junge Frau vor ihm stand, waren seine Zweifel noch größer. »Es geht nur um den Absturz«, sagte er.
»Siehst du, es ist alles gut. Gehen wir in den Garten«, sagte Kendra und hakte sich bei Fenja unter. Es war ihr in diesem Moment völlig egal, dass ihr Haar zerzaust war und sie nach ihrer Suchaktion im Wald noch immer ein wenig mitgenommen aussah. Das war sogar von Vorteil, weil sie so mehr nach einem hilfsbereiten Menschen aussah, der keine Strapazen scheute, um sich für andere einzusetzen.
»Ich stelle mich kurz unter die Dusche, bevor ich losfahre. Dein Dreiganggetriebe hat mich ganz schön zum Schwitzen gebracht«, sagte Kendra, nachdem Tobias sich verabschiedet hatte und sie ins Haus zurückgingen.
»Mir hat es immer gereicht.«
»In der Stadt, Fenja, aber hier draußen sind die Straßen ein bisschen hügliger. Naja, das wirst du irgendwann selbst herausfinden.«
»Das wünsche ich mir«, antwortete Fenja und sah Kendra nach, die die Treppe zum Gästezimmer hinauflief.
Eine Viertelstunde später kam sie in roter Jeans, weißer Bluse und schwarzen Pumps wieder die Treppe herunter. Sie hatte ihr Make-up erneuert und mit einem dunkelblauen Kajalstift und hellblauem Lidschatten ihre blauen Augen in Szene gesetzt. »Ich gehe dann, bis später«, verabschiedete sie sich von Fenja.
»Grüße ihn von mir«, bat Fenja und hielt der Freundin die Tür auf.
»Selbstverständlich«, sagte Kendra und hauchte ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange.
In Sack und Asche gehst du aber auch nicht zu diesem Krankenbesuch, dachte Fenja lächelnd, als Kendra ihr noch einmal winkte, bevor sie in ihren auffälligen metallicroten Mini-Cooper stieg, der auf der Straße vor ihrem Grundstück parkte. Aber gut, mein Kleid wäre schon übertrieben gewesen, musste sie zugeben.
Nachdem Kendra fort war, fragte sie sich, ob sie Pascal nicht doch anrufen sollte. Aber dann hätte sich Kendra umsonst auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, was sie schließlich nur ihr zuliebe tat. Ich kann ihn auch später noch anrufen, nachdem Kendra mit ihm gesprochen hat, dachte sie und dabei beließ sie es erst einmal.
*
Auf dem Weg zur Kreisstadt kam Kendra am Ortsausgang von Bergmoosbach am Haus der Seefelds vorbei. Sie hielt ihren Wagen neben dem Bürgersteig an, als sie Sebastian sah, der mit einem hübschen jungen Mädchen mit rotbraunem langem Haar und einem Berner Sennenhund gerade die Wiese vor dem Haus hinaufgehen wollte.
»Hallo, Doktor Seefeld!«, rief sie, nachdem sie ausgestiegen war.
»Frau Leistner, was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es Ihrem Patienten von heute Morgen schon wieder recht gut geht.«
»Ja, ich weiß, das Krankenhaus hat mich bereits informiert.«
»Dann sage ich Ihnen ja nichts Neues.«
»Trotzdem, danke.«
»Einen schönen Abend noch, ich bin gerade auf dem Weg zu unserem Paraglider.«
»Ihnen auch einen schönen Abend, und grüßen Sie Herrn Malen von mir.«
»Das mache ich gern, ciao, ciao!«, rief Kendra, stieg wieder in ihr Auto und fuhr weiter.
»Sie kommt aus München«, sagte Emilia.
»Das