»Charlotte wirkte abwesend? Haben Sie eine Ahnung, wieso?«
Ihre Lippen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich sage mal so: Sie interessierte sich mehr für ihre Wirkung auf das andere Geschlecht als für Sachthemen. Das ist in dem Alter ein Stück weit normal, aber bei ihr war das schon sehr ausgeprägt.«
»War sie beliebt bei ihren Mitschülern?«
Sie schlug die Beine übereinander. »Nun, sie erregte Aufmerksamkeit bei den Jungs, das schon, und bei den Mädchen … ich hatte nicht den Eindruck, dass sie beliebt war. In den Pausen sah ich sie öfter allein oder gelegentlich mit Miriam Breipohl.«
»Kam Ihnen Charlotte in letzter Zeit verändert vor?«
»In letzter Zeit …« Sie schürzte die Lippen. »Ihre schulischen Leistungen sind schon seit Anfang des Jahres deutlich abgesackt. Auch mündlich, sie ist stiller geworden. Letztes Jahr wirkte sie aufmerksamer und hat sich mehr beteiligt. Ansonsten kann ich das nicht beurteilen.«
Der Terrier sprang auf und lief schwanzwedelnd zur Tür.
»Mein Mann«, erklärte Frau Schoppe.
Ein mittelgroßer Mann mit markantem Gesicht trat ein und streichelte den Hund. Trotz seiner grauen Haare wirkte er jünger als seine Frau.
»Das ist der Herr von der Kripo.«
Schoppe ging auf Dominik zu. »Norbert Schoppe.« Er hatte ein offenes Lächeln und einen festen Händedruck.
»Er ist wegen Charlotte Campmann hier.« Sie zog ihren cremeweißen Angorapullover zurecht.
Schoppes Miene verfinsterte sich. »Wegen Charlotte … das dachte ich mir schon. Ich kann es immer noch nicht fassen!«
Dominik hob die Brauen. »Sie kannten sie?«
Ingrid Schoppe verschränkte die Arme vor der Brust.
Norbert Schoppe setzte sich neben ihn aufs Sofa. »Ich kannte sie so gut, wie man eine Schülerin kennen kann, die man seit drei Halbjahren in Biologie unterrichtet. Also eher oberflächlich. Trotzdem … schreckliche Geschichte! Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.«
»Ja, schlimm so was«, sagte Frau Schoppe und lächelte. »Mein Mann ist sehr empathisch, müssen Sie wissen. Er interessiert sich für seine Schüler und natürlich auch für die Schülerinnen.«
Empathisch? Im Gegensatz zu dir, dachte Dominik. War das Spott in ihren Augen? Aber was wusste er schon von ihr, vielleicht hatte sie ihre Schülerin nicht gemocht. Obwohl oder weil sie sich selbst um Aufmerksamkeit beim anderen Geschlecht bemühte mit figurbetonter Kleidung und ihrem stark geschminkten Gesicht?
»Hat einer von Ihnen Charlotte Campmann nach der letzten Schulstunde noch einmal gesehen?«
»Nein, ich bin gleich danach nach Hause gefahren«, gab Frau Schoppe zurück.
Herr Schoppe schüttelte den Kopf und lehnte sich vor. »Darf man fragen, wie … also … wie ist die arme Charlotte denn …« Er brach ab, denn in diesem Moment ertönte ein Poltern im Raum über ihnen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Es folgte ein Schrei. Frau Schoppe nahm die Arme auseinander und richtete sich auf. »Oh Gott, ich hoffe …«
»Bleib ruhig, Schatz, ich glaube, sie ist einfach nur böse auf mich. Ich hab sie wegen der ständigen Sauerei im Bad angesprochen und …«
»Entschuldigung.« Frau Schoppe sprang auf und eilte aus dem Zimmer.
»Ingrid, nun bleib doch!«, rief er ihr hinterher und seufzte. »Meine Stieftochter.« Er verdrehte die Augen. »Isabel ist etwas impulsiv. Und mit ihren Ausbrüchen hat sie meine Frau fest im Griff! Aber … wo waren wir stehen geblieben … Charlottes Tod … haben Sie schon einen Verdacht?«
»Ich darf Ihnen leider nichts dazu sagen. Nur so viel, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.«
Schoppe nickte und starrte vor sich hin. Von oben drangen Stimmen, dann Gebrüll. Er lächelte schief. »Ich höre das schon gar nicht mehr.«
»Pubertät?«, fragte Dominik.
»Wenn es das nur wäre. Isabel ist schon fünfundzwanzig.«
»Heutzutage bleiben die Kinder länger im Haus, wie?« Dominik dachte an Nils, Robin und Lissa. Er würde sich wünschen, dass sie mit fünfundzwanzig noch zu Hause wohnten, hegte aber wenig Hoffnung.
»Isabel ist wieder zurückgezogen. Sie hat schon mal woanders gewohnt, wenn auch nicht allein, das schafft sie nicht.«
Kurz darauf ging die Tür auf, und Frau Schoppe erschien mit roten Flecken im Gesicht. »Die Unterbrechung tut mir leid, ich …« Ein Rumpeln, das von oben kam, ließ sie zusammenzucken.
»Alles gut, ich bin jetzt auch fertig.« Dominik stand auf und reichte Norbert Schoppe seine Visitenkarte. »Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt.«
Geistesabwesend packte Nina die Sporttasche. Die Fotos vom Fundort gingen ihr auch zu Hause nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste an ihre eigene Schulzeit denken, an Franziska, ihre temperamentvolle und bewunderte Freundin, die kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag verschwand. Franzi, das Partygirl, die Rampensau, die Stimmungskanone, die überall im Mittelpunkt stand. Und eines Tages war sie fort. Die Stille danach war gespenstisch. Alle schlichen nur noch geduckt durch die Flure der Schule, sprachen in gedämpftem Ton, selbst die Lehrer, die versuchten, Franzis Mitschülern Mut zu machen, wirkten geschockt.
Nach ein paar Tagen begannen Franzis Freundinnen Geschichten zu stricken, die zu ihr passten: Mal hatte sie sich einer fahrenden Schauspieltruppe angeschlossen, mal war sie mit einem amerikanischen Millionär durchgebrannt und lebte jetzt in Hollywood. Sie erwarteten, Franzi jederzeit durch die Tür hereinspazieren zu sehen mit einer abenteuerlichen Entschuldigung für ihre Abwesenheit im Gepäck. Doch sie kehrte nie zurück. Nina widerstand damals der Versuchung, sich mit Geschichten davon abzulenken, dass etwas Unheimliches in die heile Welt des kleinen Gymnasiums eingebrochen war. Stattdessen versuchte sie sich zwei Jahre lang wie besessen an der Lösung des Rätsels, wandte sich an Franzis Angehörige und Freundinnen, die nicht verstanden, was sie mit ihren Fragen bezweckte, suchte in Zeitungsarchiven nach ähnlichen Fällen. Erst fünfzehn Jahre später wurde eine skelettierte Leiche in einer Höhle im Sauerland gefunden und anhand der DNA als Franzi identifiziert. Die Deformierungen an ihrem Schädel ließen auf ein Verbrechen schließen.
Franzi war der Grund gewesen, warum sie zur Polizei gegangen war. Und nach mehreren Stationen hatte sie es genau dahin gebracht, wo sie immer hingewollt hatte: zur Kripo. Anfangs war sie sehr stolz gewesen und ehrgeizig: Sie wollte sich beweisen. Mit der Zeit stellte sie fest, dass ihre älteren Kollegen auch nur mit Wasser kochten. Inzwischen fühlte sie sich häufig erschöpft. Es fiel ihr schwer abzuschalten, wenn sie an einem Fall arbeitete. Ihr Privatleben, das sich auf Sport und gelegentliche Kinobesuche mit Freundinnen beschränkte, kam eindeutig zu kurz. Und vielleicht … sie hielt inne, betrachtete die pralle Tasche, aus der ein Sportshirt herausquoll und den Reißverschluss blockierte … vielleicht war es auch umgekehrt: Die Arbeit lenkte sie ab von ihrem unbefriedigenden Privatleben.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.
»Du, Nina, wir haben alles im Koffer!« Kai klang stolz.
Sie lachte. »Dann seid ihr weiter als ich.«
»Aber Bines Bär darf nicht mit, sagt ihre Mama. Der ist zu groß. Du, wir essen gleich Pizza, und dann fahren wir los, sagt Bines Mama! Soll ich dir sagen. Ich freu mich schon so!« Er summte, wie immer, wenn er aufgeregt war. »Nina, und dann kommst du, und wir steigen in das Flugzeug ein. Und wusch … und wusch fliegt es …«
»Ja, Kai, danke für die Nachricht. Ich muss jetzt weiter packen. Bis nachher.«