»Sehe ich so zerknittert aus?« Sie hatte entgegen ihrer Gewohnheit sogar Wimperntusche und Lippenstift aufgelegt.
»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur. Ich hab schon einen Waldlauf hinter mir und … ach egal, manchmal vergesse ich, dass nicht alle Frühaufsteher sind.«
Streber, dachte Nina, aber sie lächelte. Nette Idee von ihm, das mit dem gemeinsamen Frühstück. »Und im Präsidium warst du natürlich auch schon«, sagte sie, während sie ihn in ihre Küche und an den Tisch lotste.
»Wie kommst du denn nur darauf?« Er grinste und hielt den Becher hoch, um sich Kaffee von ihr eingießen zu lassen.
Sie schenkte sich ein und setzte sich ebenfalls. »Weit hergeholt, ich weiß. Aber welchen Grund sollte es sonst für dich geben, mich mit Frühstück aus dem Bett zu holen? Wohin fahren wir denn gleich?«
»Du traust mir nicht, Nina. Du kannst dir gar nicht vorstellen, dass ich einfach so herkomme, nur um mit dir am Sonntagmorgen gemütlich zu frühstücken?«
Sie lächelte. »Das hat doch einen Haken, wetten?«
Seine Augen funkelten. »Ich habe einen Beweis für meine lauteren Absichten.« Er griff in seine lederne Schultertasche, die an seinem Stuhl lehnte, und zog eine beschlagene Flasche hervor. »Da ich ein bis auf die Knochen korrekter Beamter bin, würde ich doch nie im Dienst trinken.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hey, ist das etwa … Champagner?«
»Ganz recht, schöne Frau. Hast du Sektgläser? Oder wollen wir gleich aus der Flasche trinken?«
Sie lachte und holte zwei Gläser.
Roman ließ den Korken knallen und füllte sie. »Wir stoßen an, auf …«
Nina grinste. »Auf den ungelösten Fall, den wir in Windeseile beim Sektfrühstück lösen werden?«
»Auf die netteste Kollegin des ganzen Teams.«
»Oh, okay«, sagte Nina verlegen. »Es gibt ja auch nur eine.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Ich werde absichtlich missverstanden.«
Sie stießen an. Flirtete er mit ihr? Aber sie passten doch gar nicht zusammen, die Frau mit der schief zusammengeklebten Brille, den zerzausten, kurzen Haaren und den quietschenden Turnschuhen und der attraktive Kerl, der ihr jetzt in weißem Hemd mit Nadelstreifenweste und Krawatte gegenübersaß und sich in ihrer Wohnküche umschaute.
»Schön wohnst du. Alles sehr hell und im Grünen … Lebst du allein hier?«
Nina unterdrückte ein Lächeln. »Inzwischen ja. Mein Bruder hat lange bei mir gewohnt. Er hat das Down-Syndrom und wird jetzt ambulant in einer eigenen Wohnung betreut.« Sie griff nach einem Brötchen. »Was gibt es Neues?«
»Frank Tillmann Herbst… heißt er wirklich Tillmann? Dodo sagte …«
»Ja, so heißt er, aber er hasst seinen zweiten Namen.«
»Na, jedenfalls hat er die Bestätigung für die Mobbingvorwürfe gegen Vincent Oberarschloch im Internet gefunden. Rate mal, unter welchem Stichwort.«
Nina biss in ihr Brötchen und zuckte mit den Achseln.
»Schulschlampe. Unglaublich, oder? Es ist wirklich übel. Ein Früchtchen, dieser Vincent Spiekerkötter, vielleicht mehr als das …« Er hielt sein Champagnerglas gegen das Licht, das durch das Küchenfenster fiel. »Ich habe mit seiner Mutter telefoniert. Das mit den Mobbingvorwürfen war ihr neu.«
»Charlotte hat nur damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Ob ihre Lehrer etwas davon wussten?«
»Glaube ich nicht, denn dann hätte das Ganze weitere Kreise gezogen. Spiekerkötters Eltern leben übrigens getrennt. Mama Spiekerkötter erzählte, ihr Sprössling sei zurzeit bei seinem Vater. Die kämen aber erst am späten Nachmittag von einem Urlaub in einem Wellness-Hotel im Münsterland zurück und wollten abends ins Stadttheater. Bis dahin müssen wir wieder nüchtern sein. Prost.« Sie stießen noch einmal an. »Wir könnten natürlich stattdessen in der Zwischenzeit ein paar der Unterarschlöcher aus seiner Clique aufsuchen, aber …« Er ließ den Champagner im Glas kreisen.
»Aber?«
»Ich denke, das hat Zeit. Ob die uns mehr erzählen können als Miriam Breipohl? Oder erzählen wollen? Und eine Champagnerfahne untergräbt die Autorität der Polizei.«
Nina lachte auf, obwohl sie eine Befragung der Clique sinnvoll gefunden hätte. Sie würde später Dominik anrufen.
»Außerdem wird das Ganze noch anstrengend genug, denkst du nicht?«, fügte er hinzu. Sein Blick aus den dunklen Augen war durchdringend.
Nina nickte und beschäftigte sich mit ihrer Kaffeetasse. »Davon ist auszugehen.«
Unvermittelt stiegen Töne aus seiner Schultertasche auf. Ein Requiem, wenn sie sich nicht täuschte. Brahms? Sie kannte sich nicht aus. »Entschuldige, aber da muss ich rangehen.« Er holte sein Handy aus der Tasche. »Hallo? … Ja … heute Mittag? Ja, das passt. Fein. Bis dann.«
»Deine Frau?«, rutschte es Nina heraus, und im selben Augenblick verwünschte sie ihre Neugier.
Er lächelte und sah sie mit diesem seltsam intensiven Blick an. »Keine Frau, Nina. Ich war nie verheiratet. Und meine Freundin und ich haben uns vor Kurzem getrennt. Tja, so ist das, ich bin nun wieder Single.«
Er weiß, dass ich mich für ihn interessiere, dachte Nina. »Ich hätte nicht fragen sollen, das geht mich überhaupt nichts an.«
»Du darfst mich alles fragen, aber ob du auf alles eine Antwort bekommst …« Sein Lächeln wurde breiter. Dann wurde er wieder ernst und schaltete sein Handy aus. »Tut mir leid, aber ich muss gleich los. Wir sehen uns heute Abend, ja? Ich hole dich ab, und du zeigst mir den Weg zum Theater.«
Er klang, als hätten sie ein Date. Und Nina gestand sich ein, dass sie sich darauf freute.
Graues Oktoberlicht fiel in das Zimmer ihrer Tochter, das aussah, als wäre sie gerade noch da gewesen und könnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. Marianne hatte das unordentliche Zimmer in der Zwischenzeit nicht angerührt, als hätte sie mit dem Aufräumen noch den letzten Hauch von Charlotte vertrieben. Sie schaltete das grelle Deckenlicht ein, das die Papierhaufen, mit denen der Schreibtisch bedeckt war, ausleuchtete, die Kleidungstücke, die auf dem Bett, dem Schreibtischstuhl und dem Teppich lagen, den überquellenden Papierkorb, den halb offenen, überfüllten Kleiderschrank, aus dem eine Bluse wie eine weiße Fahne ragte. Im Spiegel neben dem Schrank begegnete sie den dunklen Ringen unter ihren geröteten Augen.
Dann machte Marianne sich an die Arbeit, räumte den Kleiderschrank aus, öffnete Schreibtischschubladen und kippte den Inhalt des Papierkorbs auf dem Boden aus, um den Müll zu untersuchen. Charlottes Laptop hatte einer der Beamten eingesteckt, der sich viel zu wenig Zeit genommen hatte, das Zimmer zu durchsuchen. Während sie auf dem Boden inmitten des Papiermülls hockte, fiel ihr ein Buch unter dem Nachttisch auf: Heidi Klum, Natürlich erfolgreich. Es sah abgegriffen aus, aber nicht staubig, wie sie erwartet hätte. Was hatte ihre Tochter vor ihrem Tod zuletzt gelesen? Ein Lesezeichen steckte im Buch; als sie es öffnete, fiel es zu Boden. Es war ein Foto, das ihre Tochter neben einem Mann zeigte, der seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte. Beide lächelten in die Kamera. Offensichtlich ein Selfie, das Charlotte gemacht hatte, denn ihr Arm war ausgestreckt.
Marianne starrte das Foto an. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Ein ziemlich hübscher Kerl, aber deutlich älter als ihre Tochter, er mochte Mitte oder Ende dreißig sein. Er wirkte ganz und gar nicht wie ein Verbrecher, aber das musste nichts heißen. Wer bist du?, dachte Marianne. Und wie zum Teufel soll ich das herausfinden?
Sie seufzte, begann dann, den Kleiderhaufen auf dem Teppich zu durchwühlen, griff in sämtliche Hosen- und Jackentaschen und förderte Bonbonpapiere, einen Lippenstift, Taschentücher