»Und das ist unsere Kollegin Nina Tschöke«, fuhr Bent fort. »Eine unserer besten Mordermittlerinnen.«
Nina schüttelte verlegen den Kopf.
»Recht hat er.« Dominik zwinkerte ihr zu. »Setz dich doch.«
Frank runzelte die Stirn. »Hey, Nina hat Urlaub. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst auf Malle.«
»Mein Flieger geht erst heute Abend.«
»Magst du einen Kaffee?« Dominik stand auf, ging zu dem Teewagen und hob die Thermoskanne hoch. »Mit Milch, wie immer?«
»Ja, aber nur kurz …« Sie setzte sich und nahm die Tasse entgegen. Verstohlen musterte sie Roman Noltes Kaschmirpullover, die teure Jeans, die blank polierten, schicken Lederschuhe und tastete unwillkürlich nach ihrem etwas schief geklebten Brillenbügel.
»Schön … ja … wir sind gerade bei dem neuen Fall«, erklärte Bent überflüssigerweise. »Ich mach dann mal weiter. Die Verletzungen an den Innenseiten der Handgelenke des Opfers stammen wahrscheinlich von Handschellen. Sie könnten entstanden sein, als das Opfer versucht hat, sich loszumachen, also Druck ausgeübt hat.«
»Würde man sie dann nicht eher an den Außenseiten vermuten?«, warf Nina ein. »Es sei denn, das Opfer war mit beiden Händen an zwei Bettpfosten oder Haken gefesselt und hing quasi in den Handschellen.«
Bent nickte. »Das ist ein guter Punkt.«
»Klingt nach Sadomaso-Spielen, die aus dem Ruder gelaufen sind«, sagte Frank. »SM scheint ja groß in Mode zu sein. Dieser Fifty Shades of Grey-Schinken geht weg wie warme Semmeln, stimmt’s?«
»Hm«, machte Dominik. »Aber welches fünfzehnjährige Schulmädchen würde freiwillig SM-Spiele mitmachen? Ich tippe darauf, dass sie ein Zufallsopfer war, das der Täter in seine Gewalt gebracht hat. Und so brutal wie das Ganze abgelaufen ist, muss der Mann hochgradig gestört sein.«
Nina nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war stark. »Ein Täter, der Frauen hasst? Es gibt keine Spermaspuren, nur Holzsplitter. Vielleicht ist er impotent und lässt seine Opfer dafür büßen.«
»Bisher gibt es keinen Hinweis auf weitere Opfer. Ich bin immer für Brainstorming, doch wir sollten uns nicht zu weit von dem entfernen, was wir zurzeit wissen«, sagte Bent.
Dominik seufzte. »Wir versuchen nur, uns eine Vorstellung zu machen. Ich bin kein Profiler, aber ich würde sagen, wir suchen einen sexuellen Sadisten, der vermutlich deutlich älter ist als das Opfer, etwa zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahre alt.«
Roman Nolte zog die Brauen zusammen. »Können wir denn eine Beziehungstat ausschließen? Etwa die Rache eines Ex-Freundes? Oder jemand, den das Opfer abgewiesen oder anderweitig gekränkt hat?«
»Frau Campmann«, Dominik wandte sich an Nina, »das ist die Mutter des Mordopfers, hat keinen Freund oder Ex-Freund erwähnt.«
Roman grinste. »Hast du deiner Mutter in dem Alter alles erzählt, was du so treibst?«
Dominik lachte auf, Bent lächelte. Frank verzog keine Miene. Er hockte tatsächlich so schlecht gelaunt hinter seinem Aktenführer-Rechner, wie Dominik berichtet hatte.
Bent spielte mit seinem Filzstift. »Gut möglich, dass wir es mit einem psychisch gestörten Täter, einem Narzissten oder Sadisten zu tun haben. Andererseits käme auch ein Täter infrage, der den Mord nur wie ein Sexualdelikt aussehen lassen wollte. Immerhin fehlen Spermaspuren. Ich würde sagen, noch ist alles offen.«
Der Himmel verdüsterte sich. Rote Blätter wirbelten am Fenster vorbei, und der Wind pfiff um die Ecken des Präsidiums. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, streifte Nina ein kalter Hauch. »Fangen wir doch einfach damit an, die letzten Tage und Stunden im Leben von Charlotte Campmann zu rekonstruieren.« Wir? Hatte sie wir gesagt?
»Genau.« Bent warf den Filzstift auf sein Pult. »Laut ihrer Mutter ist Charlotte am 18. Oktober morgens zur Schule gefahren. Wir müssen den Todeszeitpunkt … ja?«
Frank hatte die Hand gehoben. »Ich habe in ihrer Schule in Sieker angerufen. Charlotte hatte die letzte Schulstunde am Freitag bei ihrer Klassenlehrerin, einer gewissen Frau Schoppe. Wegen der Ferien war schon gegen 11 Uhr Schluss.«
»Schön … Dominik, du befragst Frau Schoppe, und Roman fährt zu dieser Schulfreundin … ähm …«
»Miriam Breipohl«, ergänzte Roman.
Bent nahm seine Mappe mit dem Obduktionsbericht an sich. »Ganz recht. Viel Erfolg. Und dir, Nina, weiterhin einen schönen Urlaub.«
Während die anderen den Raum verließen, gesellte sich Nina zu Frank. »Na, Frank Tillmann Herbst, was macht der Knöchel?«
»Juckt wie die Hölle unter dem Gips. Das habe ich dieser Putzfurie zu verdanken, wischt die Treppe und sagt nicht mal Bescheid. Die Alte hat doch einen Sparren locker.«
»Sind das die Fundortfotos?«
Frank nickte.
Sie griff nach dem Stapel Fotos neben seinem Rechner und dachte in dem Moment, in dem sie einen Blick auf das erste Foto warf, dass sie den Stapel besser hätte liegen lassen sollen.
Das Haus der Schoppes lag in einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe des Moorbachtals. Dominik kannte die Gegend: Das sumpfige Gelände, das der Moorbach in einem Wäldchen bildete, war meist der Endpunkt seiner Laufstrecke, bevor es wieder bergab Richtung Schildesche ging. Als er das alte Fachwerkhaus am Ende der Straße erreichte, wusste er, dass er zu weit gefahren war. Über dem Waldstück jenseits der Wiesen türmten sich dunkle Wolken. Dominik wendete, und nach einer Weile entdeckte er das großzügig geschnittene, weiß geklinkerte Haus der Schoppes. Eine einsame LED-Kerze in einer Edelstahl-Standlaterne flackerte vor der hellgrauen Eingangstür. Als er klingelte, begann ein Hund, hinter der Tür zu bellen.
Kurz darauf öffnete eine schlanke Frau in den Fünfzigern mit silberblonden, straff zum kurzen Schwanz gebundenen Haaren die Tür und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ja bitte?« In der einen Hand hielt sie eine brennende Zigarette, mit der anderen versuchte sie, einen Jack-Russell-Terrier am Halsband zurückzuhalten, der Dominik neugierig beschnüffelte.
»Domeyer. Wir hatten telefoniert. Es tut mir leid, dass ich Sie am Samstagnachmittag belästigen muss, aber …«
»Ich weiß, ich weiß.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette, wobei sich die Falten um ihren leuchtend rot geschminkten Mund vertieften, dann schob sie den Terrier zurück in den Flur. »Kommen Sie rein. Ingrid Schoppe«, fügte sie hinzu und streckte ihm kurz ihre Hand hin, als ob sie sich gerade noch der gebotenen Umgangsformen erinnerte. Ihr Händedruck war kühl und schlaff.
Er folgte ihr in ein Wohnzimmer, das ähnlich wie das Outfit von Frau Schoppe in Schwarz- und Weißtönen gehalten war. Bücherregale dominierten die Wände. Außerdem schienen die Schoppes eine Vorliebe für die klaren Farben und Formen von Piet Mondrian zu haben, dessen Kompositionen die freien Stellen als Leinwanddrucke zierten.
»Bitte.« Sie deutete auf das weiße Ledersofa, und er setzte sich. Ihre enge, schwarze Lederhose knarrte, als sie ihm gegenüber in einem Sessel Platz nahm. Der Terrier legte sich in seinen Hundekorb neben dem Sofa.
»Ich denke, Sie wissen bereits, worum es geht. Wir versuchen, die letzten Stunden vor dem Mord an Charlotte Campmann zu rekonstruieren. Ihre letzte Schulstunde hatte sie bei Ihnen,