»Wer hat sie gefunden?«, unterbrach Dominik.
»Der Revierförster, der hier mit seinem Hund unterwegs war. Der Hund hat eine Stelle freigescharrt, bei der ein Fuß zum Vorschein kam«, antwortete Bent.
»Ihr Hals …«, begann Dominik.
»Das sind Würgemale«, warf Frau Hansen ein. »Und an den Handgelenken sind auch Male zu erkennen, sehen Sie diese roten, glattrandigen Einschnitte? Möglicherweise war sie gefesselt. Sieht aber nicht nach einem Strick aus. Und zwischen den Beinen …« Sie stockte. Es war offensichtlich: getrocknetes Blut und Hämatome an den Innenseiten der Oberschenkel. »Mit etwas Glück finden wir Spermaspuren. Ich werde übrigens noch heute Nacht im Städtischen Krankenhaus obduzieren. Möchte einer der Herren dabei sein?«
»Ja, ich.« Bent schlug seinen Mantelkragen hoch. Ein eisiger Wind ließ das trockene Laub an den Bäumen rascheln.
Dominik hörte Stimmen hinter sich, drehte sich um und fing das Ende eines Satzes auf. »… Weihnachtscrosslauf in Borgholzhausen anmelden?« Das kam von einem der Overalls, Sascha Sudhölter, der in Dominiks Laufgruppe für den letzten Hermannslauf trainiert hatte. Neben ihm stand ein mittelgroßer, schlanker Mann mit ebenmäßigen Zügen und kurzem, dunklem Bart, den Dominik auf vierzig Jahre schätzte. Mit seinem Trenchcoat, den er über einem Anzug trug, sah er aus, als wäre er einem Fünfzigerjahre-Krimi entsprungen, es fehlte nur noch der Hut. Vermutlich der Neuzugang. Es hieß, der wäre vor einiger Zeit aus Hannover nach Bielefeld gewechselt. Dominik kannte den Mann vom Sehen. Vor zwei Monaten war Dominik ihm das erste Mal im Bürotrakt des KK11 begegnet – ohne zu wissen, dass es sich um einen Kripo-Kollegen handelte.
Sudhölter übergab dem Neuen jetzt eine durchsichtige Tüte mit etwas Weißem drin, und Dominik ging auf die beiden zu. Der Kriminaltechniker machte ihn mit Roman Nolte bekannt.
»Roman, wenn’s recht ist.« Nolte lächelte und hielt die Tüte hoch. »Die Spusi hat unter dem Laub ein Papiertaschentuch gefunden.«
»Das ist doch schon ein Anfang. Bist du schon im Bilde, was die Rechtsmedizinerin …«
»Klar, ich bin schon seit einer halben Stunde am Fundort.«
Ehrgeizig und attraktiv. Schon zwei Gründe für den Kollegen Frank, der attraktive Männer in der Regel als Konkurrenz betrachtete, Nolte zu hassen. Und was war mit Nina? Diesen Stefan, der sich nicht mehr meldete, hatte sie vermutlich schon abgeschrieben. Das konnte interessant werden …
»Und nach Spurenlage ist es definitiv nur der Fundort – keine Blutspuren außerhalb der Leiche, keine Zeichen eines Kampfes«, warf Sudhölter ein.
Dominik nickte. »Vielleicht findet ihr ja noch was.«
»Einerseits fehlt uns die Kleidung des Opfers für mögliche Spuren, und ob auf der Leiche noch Faserspuren oder Ähnliches gesichert werden können, nachdem sie in der Erde gelegen hat, ist fraglich. Andererseits kann sich hier unter jedem vertrockneten Blatt etwas verbergen.« Sudhölter verzog den Mund. »Das wird eine lange Nacht.«
»Und kalt dazu.« Dominik blickte in den Himmel. Die Nacht über dem Teutoburger Wald war sternenklar, doch außerhalb der grellen Scheinwerfer herrschte Finsternis. Um diese Jahreszeit gingen nur noch selten Wanderer den Hermannsweg. Es war reiner Zufall, dass jemand diese Leiche entdeckt hatte.
»Geiler Wagen übrigens, Nol… Roman.«
Roman Nolte grinste.
Samstag, 26. Oktober
Ein warmer Wind wehte ihm ins Gesicht, während sie die kurvenreiche Straße an der felsigen Küste entlangfuhren. Das Meer weit unter ihnen hob sich silbrig schimmernd vom tiefblauen Himmel ab. War die Frau neben ihm am Steuer dieses Cabrios wirklich Grace Kelly? Der Seidenschal, den sie sich um den Hals gebunden hatte, flatterte ihr ins Gesicht, sodass er es nicht erkennen konnte, und sich fragte, ob sie die Straße noch sah. Im nächsten Augenblick hörte er das Quietschen von Bremsen, der Wagen schlingerte, und sie flogen aus der Kurve, fielen den Abhang hinunter, stürzten dem Meer entgegen …
Dominik schreckte mit klopfendem Herzen hoch und fand sich in seinem stickig-warmen Schlafzimmer wieder. Das graue Licht der Morgendämmerung rahmte bereits das Dachfenster-Rollo, der Wecker zeigte 6:45 Uhr an. Er reckte sich, stand auf und öffnete das Fenster. Frische, kalte Luft strömte herein und vertrieb die Reste des Albtraums aus seinem Bewusstsein.
Durch das lange, nächtliche Telefonat mit seiner Tochter hatte er vergessen, die Heizung runterzudrehen. Wenigstens ging es ihr gut. Die Mutter einer Mitschülerin arbeitete bei der Polizei in Auckland und hatte Lissa beim Barbecue offenbar in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie toll ihr Beruf sei. Hm.
»Du sagst ja gar nichts, Papa. Du gehst doch voll auf in deinem Beruf, oder? Ehrlich gesagt, glaube ich, dass Mama deswegen ausgezogen ist …«
»Deine Mutter … Betty … das ist zum Beispiel einer der Nachteile. Die Work-Life-Balance, wie man so schön sagt, die kannst du komplett vergessen. Heute zum Beispiel ist Samstag, und ich muss trotzdem arbeiten …«
»Aber es macht dir doch Spaß.«
Spaß? Er musste an die junge Frau in dem Erdloch denken. Wie sollte er Lissa erklären, dass sie es in diesem Beruf permanent mit Abgründen zu tun hatte? Ihm kam eine Idee. »Mord und Totschlag sind nicht immer spaßig, Lissa. Warum redest du nicht mal mit Frank darüber?« Sein Freund und Kollege war nicht gerade übermotiviert und würde ihr sicher abraten.
»Wie geht’s Frank denn so mit dem Gipsbein? Kommt ihr Kerle klar oder bleibt das Putzen an dir hängen? Ich meine, mal unter uns, Robin ist ’ne alte Schlampe.«
»Er ist … kein Putzteufel. Stimmt.« Dominik grinste. Sein jüngster Sohn interessierte sich ausschließlich für seine Freundin, seinen politischen Blog und die nächste politische »Aktion«. »Lissa, wir haben doch jetzt eine Putzfrau. Seitdem ist alles klinisch rein. Kaum sind wir zu Hause, feudelt sie schon hinter uns her.«
»Ich hab’s ja immer gesagt, wir brauchen ’ne Putze.«
»Putze?«
Sie stöhnte. »Raumpflegerin, Reinigungskraft, Wischiwaschifachfrau … Hauptsache, es ist sauber. Hat Frank schon eine Wohnung in Aussicht, oder musst du ihn adoptieren?«
»Ja also … genau genommen hat er noch gar nicht angefangen zu suchen …«
»Ist ja auch voll krass, so plötzlich wegen Eigenbedarfs rauszumüssen.«
»Ganz so plötzlich … ach egal, er findet schon was.« Frank hatte die dreimonatige Kündigungsfrist verpennt, um dann für kurze Zeit bei Nina und schließlich bei ihm unterzukommen. Angeblich »übergangsweise«.
»Bestimmt. Tschüss, Glucken-Papa. Und ruf nicht wieder an.« Lissa lachte.
Dominik lächelte in der Erinnerung und stieg die Treppe hinunter. Im Bad rumorte Frank. Das konnte dauern. Es war vermutlich schwierig, mit Gips zu duschen. Zum Glück gab es noch ein zweites Badezimmer.
Ein Dreiviertelstunde später zwängte sich Frank umständlich auf die Beifahrerseite von Dominiks Wagen.
Sie waren schon eine Weile gefahren, als Dominik bemerkte: »Ich habe übrigens heute Nacht von Grace Kelly geträumt.«
Frank grinste. »Bist noch nicht von Betty geschieden und träumst schon von Grace Kelly. Dummerweise hat die bei einem Unfall den Löffel abgegeben. Wäre aber heute – ich weiß nicht – hundert oder so?« Er klappte die Blende mit dem Spiegel runter und kämmte sich sein fusseliges, blondes Haar mit den Fingern.
»Bis zur Scheidung ist es ja nicht mehr lange. Aber … die Kelly ist bei einem Unfall ums Leben gekommen? In einem