»Reicht schon, danke!«
Dominik unterdrückte ein Lächeln und beschleunigte den Wagen hinter dem Ostwestfalendammtunnel.
Frank gähnte laut. »Mann, bin ich fertig. Und dann in aller Herrgottsfrühe wieder Besprechung. Habe ich dir überhaupt schon erzählt, dass wir die Tote identifiziert haben?«
»Nein, wie auch, du redest ja grundsätzlich nicht beim Frühstück.«
»Bin eben kein Morgenmensch, Dodo. Also, nachdem die Fundort-Fotos reingekommen waren, bin ich gestern Nacht noch die Vermisstenmeldungen durchgegangen …« Frank machte eine Kunstpause.
»Du hast dich verausgabt, spätnachts …«
»Spotte nur, aber immerhin haben wir jetzt einen Namen: Das Mädel heißt Charlotte Campmann und wird seit dem 18. Oktober von ihrer Mutter vermisst. Sie ist fünfzehn.«
»So jung?« Vielleicht lag es an dem Make-up auf ihrem Gesicht, dass er sie älter geschätzt hatte.
Das graue Wetter ließ die Farben des Besprechungsraums noch kühler wirken, als er es ohnehin schon war: weiße, U-förmig aufgestellte Tische, grauer Teppich, eine weiße Magnettafel, mit der Bent Andersen den Flipchart ersetzt hatte. Dort hing ein Foto mit einer lächelnden, jungen Charlotte Campmann, die zu Lebzeiten ausnehmend hübsch gewesen war. Schweigend tranken Dominik und Frank ihren Kaffee, als Bent hereinkam, mit kleinen Augen und umso größeren Augenringen. Roman Nolte, der ihm folgte, wirkte dagegen frisch und tatkräftig. Er ging sogleich auf Frank zu, um sich vorzustellen und ihm die Hand zu schütteln. Frank machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Vielleicht übten sie schon, wer kräftiger zudrücken konnte. Kleine Truppe, dachte Dominik, wenn wenigstens Nina hier wäre … Auf viel Entlastung durften sie nicht hoffen, da noch zwei andere Fälle die Kripo Bielefeld in Atem hielten.
Bent kam nach einer kurzen Begrüßung zur Sache. »Marianne Campmann hat ihre Tochter nach der Obduktion gestern Nacht identifiziert. Sie hatte eine Art Zusammenbruch und bekam ein Beruhigungsmittel. Vielleicht geht es ihr inzwischen besser, und wir können sie heute befragen.«
Nolte nickte ernst.
»Manchmal hat’s auch Vorteile, nur der Aktenführer zu sein«, flüsterte Frank Dominik ins Ohr.
Nolte räusperte sich. »Das könnte ich tun, falls das … in deinen Plan passt, Bent.«
»Schön … ja. Aber das sollten zwei von uns machen, Dominik wird dich begleiten. Die Todesursache war übrigens Ersticken. Die Jugendliche ist erwürgt worden. Den Bericht mit weiteren Einzelheiten kriegen wir heute Nachmittag.«
»Ihre Verletzungen deuten auf ein Sexualverbrechen hin, oder?«, fragte Dominik.
Bent nickte. »Es könnte sich um einen Sexualmord handeln oder aber um einen Verdeckungsmord, bei dem der Täter eine Vergewaltigung vertuschen wollte. Am Fundort konnten die Kollegen trotz des teilweise matschigen Bodens übrigens noch einen Sohlenabdruck mit Hilfe von Gips sichern. Sonst wurde nur ein benutztes Papiertaschentuch gefunden, das bereits ins Labor gegangen ist zur DNA-Analyse. Mehr dazu heute Nachmittag. Viel Erfolg bei Marianne Campmann!«
»Na, Lust, ’ne Tour mit dem ›geilen Wagen‹ zu machen?«, fragte Roman Nolte, während sie den Besprechungsraum verließen.
Dominik lächelte. »Na klar.«
Unterwegs erzählte Roman von seiner kurzen Dienstzeit in Münster, wo er nach Hannover gelandet war und in erster Linie Fahrraddiebstähle und Einbrüche aufzuklären seien.
»Klingt so, als wäre dir langweilig geworden. Also auf nach Bielefeld, wo mehr los ist, wie?«
»Hier ist mehr los, ja. Aber deshalb habe ich mich nicht hierhin beworben.«
Dominik grinste. »Das beruhigt mich jetzt. Weshalb dann?«
»Der Liebe wegen. Ist aber schon wieder vorbei. Wie das eben so kommt.« Roman lachte. »Dominik, du bist Herrmannsläufer, habe ich gehört?«
Während sie sich im dichten Verkehr die Detmolder Straße entlangschoben, ging es um diverse Läufe, Zeiten, Läufergruppen und die richtigen Läden fürs Lauf-Equipment. Schließlich bogen sie auf die Otto-Brenner-Straße ab, und nach kurzer Zeit kamen Hochhäuser in Sicht. Sie hielten auf einem Parkplatz neben alten Möbeln, halb verrosteten Einkaufswagen und einer Mülltonne, aus der die gelben Säcke quollen. Einer der Säcke war aufgerissen, und der Wind verteilte seinen Inhalt über einen angrenzenden Grünstreifen.
Ein Graupelschauer erwischte sie, während sie auf eines der Hochhäuser zugingen. »Am Prinzipalmarkt ist es hübscher, was, Roman?«
»Münster hat auch Problemviertel.«
Sie beschleunigten ihre Schritte. Es dauerte eine Weile, bis sie Marianne Campmanns Schild unter den sechzig Klingelschildern gefunden hatten und die Mutter des Mordopfers auf ihr Klingeln reagierte. Roman wollte lieber auf eine Fahrt in dem engen Aufzug verzichten. »Irgendwie riecht es hier komisch.«
Dominik grinste. »Man kann nicht früh genug mit dem Herrmannslauftraining anfangen.«
Im zehnten Stock öffnete ihnen eine füllige, kleine Frau um die sechzig mit grauen Haaren, die sie zu einem Schwanz gebunden trug. Sie wischte sich über ihr blasses, rotfleckiges Gesicht.
Dominik zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Wir …«
»Kommen Sie rein«, sagte sie mit müder Stimme.
Sie folgten ihr in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, in dem nicht ein Flachbildschirm, sondern ein Tisch mit einer Nähmaschine, angefangener Näharbeit und ausgebreiteten Stoffen dominierte.
»Haben wir Sie beim Nähen gestört?« Roman lächelte.
Zwischen Marianne Campmanns Brauen bildete sich eine steile Falte. »Was denken Sie denn? Meine Tochter ist ermordet worden, und ich nähe hier munter vor mich hin, ja? Nein, ich hab nur früher für Charlotte genäht, weil sie sich diese topmodischen Sachen nicht kaufen konnte, und da hab ich versucht …« Sie brach ab, hob die Arme und ließ sie wieder fallen, starrte ins Leere. Ihre Augen wurden feucht. »Die Klamotten braucht sie ja nun nicht mehr.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Wie schön, dass die Polizei nun tatsächlich mal reagiert. Jetzt, wo alles zu spät ist!«
Roman sah ihr in die Augen. »Frau Campmann, ich bin sicher, wir werden den Mörder Ihrer Tochter finden.«
Er klang wie eine Figur aus einem amerikanischen Fernsehkrimi und wirkte dabei vollkommen authentisch. Dominik hatte sich einmal zu einer ähnlichen Bemerkung hinreißen lassen, war sich der Möglichkeit des Scheiterns jedoch nur allzu bewusst gewesen und ließ es seitdem lieber. Roman Nolte hingegen schien von keinerlei Zweifel angekränkelt zu werden. Ein selbstbewusster Kollege. »Dürfen wir uns setzen?«, machte Roman weiter.
»Bitte.« Marianne Campmann wies auf zwei Sessel und ließ sich auf der Couch nieder. Ihre Schultern fielen nach vorn, alle Streitlust schien von ihr abgefallen zu sein.
»Haben Sie eine Idee …?«, begann Dominik.
»Nein.« Sie straffte sich. »Leider.«
»Hat sich Ihre Tochter in letzter Zeit anders verhalten als sonst?«, machte Dominik weiter.
»Es war immer ein Auf und Ab. Und ich weiß nicht mehr, mit wem sie ausging. Sie hat mir früher alles erzählt, aber dann nicht mehr. Das ist wohl die Pubertät, nicht wahr?«, sagte sie tonlos.
»Was ist mit Schulfreunden?«
»Nur Miriam. Miriam Breipohl. Mit den anderen aus der Klasse hatte Charlotte keinen Kontakt mehr außerhalb der Schule. Nach den Weihnachtferien war sie einige Wochen lang krankgeschrieben, und danach herrschte Funkstille. Tja, so schnell kann es in dem Alter gehen, dass man nicht mehr angesagt ist.«
»Sie haben Ihre Tochter am Freitag, dem 18.