Wohlfahrts Gesicht verschloss sich erneut. Er schien die Frage als einen Angriff auf seine Berufsehre aufzufassen.
»Hier geht niemand ein und aus ohne meine Erlaubnis. Wir sind doch kein Bahnhofsgebäude, Herr Bircher. Aber natürlich treffen wir uns hier ab und zu, und Klaus Behrens muss auch die Blutproben abholen, um sie in sein Labor am Institut für Wirkstoffforschung zu bringen.«
»Gut, kommen wir vorerst zum Schluss. Ich brauche dann noch Kopien der Krankenakten von den drei verstorbenen Patienten. Könnten Sie das bitte veranlassen?«
»Wie? Die gehören doch unter das Gebot der ärztlichen Schweigepflicht«, protestierte Wohlfahrt.
»In meinem Beruf ist man per Befehl zur Verschwiegenheit verpflichtet, Herr Doktor.« Bircher sah ihn schräg an und unterdrückte ein Gähnen.
»Muss mal sehen, wer noch hier ist«, murmelte Wohlfahrt.
Bircher stemmte sich aus seinem Stuhl, ächzte leicht, als er den Rücken streckte, und kontrollierte die Uhrzeit. Schaff ich gerade noch zum Abendessen, stellte er zufrieden fest. Er überflog in Gedanken das Gehörte und zuckte etwas ratlos mit den Schultern. Nichts Greifbares, resümierte er. Paar Hinweise auf Ungereimtheiten. Wie kann es denn sein, dass drei erfolgreich Operierte – immer Männer im besten Alter – einfach so wie Hundertjährige im Schlaf von uns gehen? Allen ging es gut, ihre Herzen schlugen wieder normal, im Siebziger-Rhythmus, wie Wohlfahrt sagte. Der kann mir nicht erklären, warum die alle aufhörten zu atmen. Oder verheimlicht er mir was? Ich werde mich wohl mit Schrittmachern beschäftigen müssen. Der Gedanke beunruhigte ihn wie ein Arztbesuch. Nee, das überlasse ich Rainer Schmidter, legte er fest. Der kann sogar einen Trabbi reparieren. Und Philipp nimmt sich die Forscher vor. Da geht’s dann rasch zur Sache. Oberleutnant Angler konnte den Leuten mächtig auf den Leib rücken, wenn er in Fahrt geriet.
»Hier sind die Kopien«, riss ihn Wohlfahrt aus seinen Gedanken, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte. Wie vom Himmel gefallen taucht der neben einem auf, wunderte sich Bircher.
»Danke Ihnen. Eine letzte Bitte: Können Sie mir ein Krankenzimmer zeigen?«
Wohlfahrt bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, zögerte kurz und nickte dann. Wortlos drehte er sich zur Tür.
»Dann gehe ich mal voran.«
»Gibt es nur diese eine Station in der Klinik?«, fragte Bircher, der sich beeilte, Wohlfahrt zu folgen.
»Wir haben noch eine zweite, die zur Inneren gehört.«
»Liegen dort auch Schrittmacherpatienten?«
»Ja, aber weniger«, antwortete Wohlfahrt kühl und warf Bircher einen prüfenden Blick zu.
Sie schritten einen langen weißen Korridor entlang, an dessen Seiten die Krankenzimmer lagen. Wohlfahrt blieb einige Male stehen, öffnete eine Tür, sah sich im Zimmer um und nickte den Patienten zu. Offenbar suchte er den passenden Raum, vielleicht wollte er Bircher einen bestimmten Patienten zeigen.
»Hier können wir mal reinsehen«, sagte er und winkte Bircher, ihm zu folgen.
Es war ein Vierbettzimmer, aber nur von zwei Patienten belegt. Sieht gar nicht so schlimm aus, fand Bircher, der etwas ungelenk vor den Betten stand. Er hatte erwartet, dass das Zimmer vollgestopft wäre mit medizinischen Geräten. Stattdessen sah er Blumen auf den Nachttischen und helle Gardinen am Fenster. Er stellte sich ein Zimmer im FDGB-Heim vor, das musste ähnlich aussehen.
»Guten Abend«, begrüßte Wohlfahrt den Mann, der sich halb aus dem Kissen stemmte. »Bleiben Sie ruhig liegen, Herr Buchholz, wie geht’s Ihnen? Alles normal?«, fragte er und legte wie zur Beruhigung seine Hand auf die Schulter des Patienten, der auf seinen Ellenbogen gestützt verwundert die beiden Männer ansah.
»Ja, ja, Herr Doktor, fühle mich sehr gut, alles gut …«, stotterte der Mann, der nicht begriff, was man von ihm um diese Zeit wollte. Eigentlich passierte nach der Abendvisite nichts mehr, und die hatte gerade stattgefunden.
»Kein Grund zur Aufregung, mein Kollege möchte nur einmal eines der Zimmer sehen, in denen unsere Schrittmacherpatienten liegen«, erklärte Wohlfahrt die Situation mit einer kleinen Notlüge und drückte den Mann sanft in sein Kissen.
»Ach so«, flüsterte der Patient.
»Wenn ich schon hier bin, lassen Sie mich mal Ihr Herz abhören«, sagte Wohlfahrt und zog sein Stethoskop aus der Kitteltasche. Bircher trat einen Schritt zurück und senkte die Mundwinkel. Der Patient lüftete brav die Bettdecke, öffnete seine Pyjamajacke, und Wohlfahrt beugte sich zu ihm.
»Offensichtlich gute Stimulation, regelmäßiger Herzschlag, Herr Buchholz«, sprach er zu seinem Patienten wie zu einem gelehrigen Schüler. »Alles bestens, haben Sie eine schöne Nacht. Übermorgen gehen Sie nach Hause, Herr Buchholz«, verabschiedete sich Wohlfahrt und bedachte ihn mit einem wohlwollenden Klaps auf die Schulter.
Das wünsche ich ihm von Herzen, setzte Bircher für sich hinzu. Wieder auf dem Korridor, wandte er sich an Wohlfahrt.
»Gute Stimulation bedeutet, dass die Elektroden einwandfrei funktionieren?«, vergewisserte er sich noch einmal vorsichtig.
»In Kombination mit den Batterien«, fügte Wohlfahrt hinzu.
Bircher verkniff sich weitere Fragen und sie verabschiedeten sich mit einem förmlichen Handschlag auf dem Korridor. Bircher stieg die Treppen hinab und nahm sich vor, seinen Freund und Kollegen Professor Wolfgang Tetsche, Gerichtsmediziner an der Charité, über die Tücken einer Schrittmachertherapie auszufragen. Bei dem kann ich mich nach all den Jahren nicht mehr blamieren, grinste er in sich hinein.
Klaus’ Vater besaß an einem der Berliner Seen eine kleine Datscha, nur einige Busstationen vom S-Bahnhof Erkner entfernt. Verließ man den S-Bahnhof, musste man den Bus nach Kagel nehmen, der nur alle zwei Stunden verkehrte. Es dauerte knappe zwanzig Minuten und man erreichte Grünheide, einen kleinen Ort am Peetzsee, der für seine Milchbar bekannt war, die sich im Kulturhaus befand. Hier versammelten sich in den Sommerferien die Dorfschönen, Einheimische, Datschenbesitzer und Urlauber, um sich aus der Musikbox mit Schlagermelodien beschallen zu lassen. Auf hohen, mit Kunstleder gepolsterten Hockern saß man am Tresen, auf den trichterförmige Lampen unterschiedlicher Farbe im Chic der sechziger Jahre buntes Licht warfen. Die vordere Wandverkleidung wies eine konkave Form auf, am Tresen sitzend stieß man sich nicht die Knie. An dem sich verengenden Aufbau befand sich eine tiefe Ablage für Handtaschen oder Schirme. Auf dem Hocker lümmelnd, konnte man entspannt das Publikum betrachten. Der Milchbar war eine geräumige Terrasse vorgelagert, längs zur einzigen gepflasterten Straße des Ortes, die von der Busstation quer durch den Ort bis zur Kanalbrücke führte und den Peetzsee vom Werlsee trennte. Die Terrasse war der Lieblingsort von Klaus und Frank, weil man die Straße, den Bürgersteig und das gegenüberliegende Hotel am Peetzsee im Blick hatte. Zum Hotel gehörte eine geräumige, verglaste Veranda, eigentlich ein Ballsaal, an der Stirnseite befand sich eine kleine Bühne, auf der am Wochenende aus der Hauptstadt angereiste Bands groß aufspielten. Die Milchbar war der Ort, wo man das Abendprogramm plante und an dem es mit etwas Glück seinen Anfang nahm.
Von der Terrasse bis zur Laube war es für Frank und Klaus eine knappe halbe Stunde Fußweg. Gleich hinter dem Ortsausgang Grünheide zweigte ein Trampelpfad ab, der sich in einem weiten Bogen durch dichten Laubwald schlängelte, bis er nach zwei Kilometern am See endete. Dann waren es noch wenige Schritte entlang der Uferböschung, bevor zwischen Wald und Wasser die winzige Siedlung aus drei einfachen Holzlauben auftauchte. Jede Datsche war mit einem Zimmer, einer winzigen Kochnische und einer Dusche ausgestattet. Zu jedem Häuschen gehörte ein winziger Garten, gerade groß genug, um einen Tisch und vier Stühle aufzustellen. Alle Lauben waren zum Wasser hin ausgerichtet, man lief ein paar Schritte den kleinen Hang hinunter und schon war man im See, den die Berliner Laubenpieper als eine Verlängerung ihres Grundstücks betrachteten. Wenn Frank und Klaus morgens zum Ufer liefen, um sich im gleißenden Licht der Morgensonne ins Wasser zu werfen, jauchzten sie wie Kinder in ihrem Planschbecken. Manchmal, nach einem erfolgreichen Dorffest, schwammen sie