Es war ein ungewöhnlich milder Herbstabend, Renate hatte das Fenster etwas heruntergekurbelt und ließ sich vom Fahrtwind die Haare föhnen. Ihre linke Hand ruhte auf Franks rechtem Oberschenkel, die Augen halb geschlossen, döste sie vor sich hin. Sie spürte seine Muskeln, wenn er bremste. Die B1 führte hinter Biesdorf schnurgerade nach Osten, Frank konnte sich jetzt entspannen, denn um diese Zeit flaute der Verkehr merklich ab. Die Revolverschaltung vibrierte leicht, er fuhr mit Bedacht. Er war sich bewusst, dass es sehr heikel werden könnte, würden sie auffallen, etwa durch eine Verkehrskontrolle.
Niemand wusste von ihrer Beziehung. Sie hatte noch im August begonnen, kurz nachdem Frank ausgezogen war. Die Kraft und Ruhe, die von ihm ausgingen, sein Gleichmut, mit dem er Hindernisse aus dem Weg zu räumen schien, und sein Lächeln, das ihm wie ein Wesensmerkmal in den Zügen lag, zogen Renate Wohlfahrt an. Sie erinnerte sich gern daran, wie er ihr am ersten Abend etwas unbeholfen sein Programm zum Idealgewicht erläutert hatte, während ihr zumute gewesen war, als säße sie neben einem Magier. Frank hatte sie tatsächlich verzaubert. Er hatte alles, was sie an Peter vermisste, er war der Gegenentwurf zu ihm. Am Anfang war da noch Klaus gewesen, der Junge mit dem Gemüt eines ungestümen Kindes, der sie auf andere Art anzog. Dem konnte es nicht schnell genug gehen, der konnte seinen Tatendrang kaum drosseln. Dem würden irgendwann einmal die Gefühle den Verstand rauben, spannend, aber gefährlich. Solche Männer konnten im Ernstfall die Dinge nicht für sich behalten. Sie hatte auch ihn in ihr Herz geschlossen, aber er befand sich sozusagen unter Verschluss. Leidenschaft empfand sie für Frank, Klaus gehörte ihre Sympathie und herzliche Zuneigung. Eigentlich, fand sie manchmal, könnte ich mit beiden unter einem Dach zusammenleben.
Sie warf Frank einen zärtlichen Blick zu und zog ihre Hand von seinem Bein. Sie hatten die Stadt verlassen und näherten sich der Galopprennbahn in Hoppegarten. Renates Gedanken kehrten noch einmal zu Klaus zurück. Ihr waren die Offenbach-Stuben eingefallen. Klaus hatte vor einigen Wochen inständig darum gebeten, sie zum Essen einladen zu dürfen. Du Scherzkeks, hatte sie ihn in Gedanken geneckt, als würde es dir nur ums Essen und Geplauder gehen. Na ja, die Neugierde hatte gesiegt und sie hatte zugesagt. Peter hatte an dem Tag wieder einmal Nachtdienst. Sie wunderte sich ein wenig, als Klaus die Offenbach-Stuben vorschlug. Donnerwetter, legt der sich ins Zeug, war ihre erste Reaktion. Das war ein nobler Ort, bekannt für die Kellner »vom anderen Ufer«, sehr gutes Essen und prominentes Publikum. Renate wurde kurz abgelenkt, weil sie einige Pferde auf der Koppel bemerkte, nach denen sie sich umsah. Dabei berührten ihre Haare Franks Wange, sein Gesicht strahlte vor Glück. Schöne Räume haben die dort, nahm sie ihre Erinnerungen an Klaus wieder auf. Dunkelgrüne Holzpaneele, gestreifte Tapeten wie in alten französischen Filmen, Vorhänge mit goldschimmernden Kordeln. Der Kellner hieß Hansi, am Nachbartisch saßen irgendwelche wichtigen Leute, wahrscheinlich Westbesuch, und aßen Schnecken. Ja, es war ein schöner Abend, aber Klaus’ Hoffnungen erfüllte sie nicht. Sie schreckte aus ihren Erinnerungen auf, weil sie die Autobahn erreicht hatten und Frank entgegen aller Hinweise seines Vaters das Gaspedal durchdrückte, worauf der Trabbi wie ein geschundener Gaul aufheulte.
»Pass auf, dass die Pappe nicht schmilzt«, rief Renate und presste wieder ihre Hand auf Franks Oberschenkel.
»Wir sind gleich da«, vermeldete er.
»Fahr langsamer und erzähl mir was von dem Ort! Altbuchhorst, nie gehört.«
»Also«, begann er zögernd, darauf bedacht, sich nicht zu verquatschen. »Die Gaststätte am Möllensee hat ’ne prima Küche, deren unbestrittene Chefin Else Fleischer ist. Ihr Mann steht wie angekettet von früh bis abends am Zapfhahn.« Frank sprach jetzt wie ein Reiseführer, der im Bus die Gegend erklärt. »Am Restaurant ist eine große Veranda angebaut, die ist zur Seeseite verglast. Hoffentlich ergattern wir dort einen Tisch.«
Renate leckte sich die Lippen und versuchte wie zur Musik ihren Oberkörper zu schwenken.
»Von der Veranda sieht man die Schiffe der Weißen Flotte, die kommen aus Treptow und legen vor der Gaststätte an.«
»Oh, wie idyllisch«, antwortete Renate, die mittlerweile Frank fast auf dem Schoß saß.
»Und ob«, pflichtete ihr Frank bei. »Und ich sage dir, wenn das Schiffshorn zweimal bläst, dann beugt sich die Else mit ihrer perfekten Dauerwelle durch die Küchenluke und linst in den Gastraum, als würde sie die Portionen durchzählen.«
Interessant, was mein Frank so alles bemerkt, dachte sich Renate, die an seiner Schulter lehnte.
»Dann ist da noch eine Kegelbahn, wenn die Kugeln rollen, hört sich das von draußen wie Kanonendonner an.«
»Na, das brauche ich nicht«, bemerkte Renate mit einem Blick auf ihre zierlichen Hände.
Die Dämmerung war angebrochen, das schräge Licht der letzten Abendsonne erzeugte bizarre Schatten im Wald, der sich zu beiden Seiten ausbreitete. Man erkannte noch die goldene Laubfärbung der stolz in den Himmel ragenden Buchen, das sanfte Grün der Fichten und die gezackten Blätter mächtiger Kastanien. Die Landschaft begab sich allmählich zur Nachtruhe. Frank fuhr jetzt langsamer, als wollte er die Stimmung festhalten. Eben noch auf der Betonpiste, befanden sie sich auf einmal inmitten der Natur, nur die schmale Landstraße erinnerte sie daran, woher sie kamen und wohin sie wollten. Würden wir jetzt anhalten und aussteigen, wenige Schritte in den nachtschwarzen geheimnisvollen Wald wagen, wären wir ganz auf uns allein gestellt, dachte Renate und schob sich noch eine Handbreit näher an Frank.
»Gruselig«, flüsterte sie.
Frank warf einen flüchtigen Blick nach links in die geheimnisvolle Nacht. Er erinnerte sich plötzlich an alte Zeiten, wie Klaus und er nach einigen Bieren darüber philosophierten, was wohl geheimnisvoller wäre, die Liebe oder die Natur, und warum allein die Natur ewig währte. Wie um sich von der Erinnerung zu befreien, schüttelte er leicht den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Renate zärtlich.
»Ja. Manchmal tritt Wild auf die Straße, hier muss man langsam fahren.«
»Verstehe, das würde die Plaste nicht überstehen.«
»Wir vielleicht ebenso wenig. Da vorn siehst du die Lichter von Grünheide, dann sind es noch zwei Kilometer.«
»Und da hält der Dampfer aus Berlin?«
»Hm, Weiße Flotte, kommt aus Treptow. Bist du mal mitgefahren?«
»Allerdings.« Ihre Stimme klang auf einmal ganz anders, wie bei einer schmerzlichen Erinnerung.
»Ist was?«, fragte Frank besorgt.
»Ach, nur so eine Erinnerung. Wir hatten vor zwei Jahren einen Betriebsausflug auf so einem Dampfer. Wie üblich, ging es hoch her, kennst du ja. Ich bin dann hoch aufs Deck und da hat mich so ein Kerl angemacht, ziemlich dreist. Der war nicht aus meinem Betrieb. Egal, ist ja nichts weiter gewesen, dieser alte Sack …«, zischte sie und schmiegte sich gleich darauf an Franks Schulter.
»Kennst du seinen Namen?«
»Fred Wegner oder Wagner, weiß nicht genau. Peter kannte den von irgendwoher.«
Frank drückte wie zum Trost kurz seine rechte Hand auf ihr Knie.
Die Straße machte einen letzten Bogen, bevor sie den Ort erreichten. Keine zwei Minuten später bogen sie auf die Altbuchhorster Straße ein und der Trabbi