»Da.« Coco hielt einen ihrer gefeilten Fingernägel an den Kratzer. »Sehen Sie den weißen Splitter darin?«
Ihr Arbeitgeber reckte seinen Hals, um es sich genauer anschauen zu können. »Was soll das sein?«
»Ein Stück Zahn!«
»Erzählen Sie das jemand anderem!«
»Es stimmt aber.«
White drehte sich wieder zu Mick um. »Diese kleinen Riffhaie haben tatsächlich so viel Kraft, dass sie ihre Zähne in ein Viertelzoll Acryl bohren und diese dabei abbrechen können? Im Ernst?« Er starrte ihn erstaunt an, als erwarte er von Mick, das Gleiche zu tun. Der Schiffsmechaniker lächelte, sagte aber nichts.
»Es ist ein Zahnsplitter, Sir.« Coco drückte den Fingernagel in die Scharte und zog das knochenweiße Stück heraus. »Sehen Sie? Bloß die Spitze.«
White beugte sich zu ihr, um den entnommenen Splitter genauer zu untersuchen, und richtete sich dann ruckartig wieder auf. »Das ist einfach lächerlich. Sollte dies tatsächlich nur die Spitze sein, dann müsste der Zahn insgesamt sechs Zoll lang sein. Wollen Sie mich hier gerade zum Narren halten?«
Nun wurde Coco rot, denn dieser Rüffel hatte gesessen. »Keineswegs, Sir, ich tue nichts weiter …«
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie ab sofort tun«, unterbrach sie White aufgebracht. »Sie achten verdammt noch mal darauf, dass so etwas nie wieder mit meinem U-Boot geschieht, ist das klar?«
»Jawohl, Sir.«
»Ich werde Ihnen jeden Tag vom Lohn abziehen, an dem diese Maschine nicht im Einsatz ist. Und Sie …« Er zeigte auf Mick. »Sie tun gut daran, das Ding bis morgen wieder vollkommen in Schuss zu bringen. Falls Sie dafür extra zahlen müssen, um Teile noch heute auf dem Luftweg zu besorgen, dann tun Sie es. Verstanden?«
»Klar und deutlich, Sir. Keine Sorge, ich werde es flicken.«
White lachte in sich hinein, während er den Pier hinunterstolzierte. »Keine Sorge … die ganze elende Welt wird ab morgen auf diesen Ort schauen, und ich soll mir keine Sorgen machen.« Er erhob seine Stimme, als er vom Dock an den Strand trat und sich noch einmal umdrehte. »Sie machen sich besser Sorgen! Denn genau dafür bezahle ich Sie!« Schließlich schritt er auf die beieinanderstehenden Funktionsgebäude zu.
Coco seufzte gequält. »Na, das lief ja prima.«
Mick lächelte wieder. »Tut mir leid, dass ich mich nicht deutlicher auf deine Seite schlagen konnte, aber offen gestanden habe ich keine Ahnung, wie ich das bis morgen Abend, geschweige denn bis morgen früh hinbekommen soll.« Er betrachtete das U-Boot erneut argwöhnisch. »Am besten erkundige ich mich sofort, wie ich die nötigen Teile beschaffen kann. Sehen wir uns morgen Abend zum Essen?«
»Ja, warum nicht?«, antwortete Coco geistesabwesend, als Mick bereits vom Pier zum Bürokomplex ging.
Sie blieb stehen und spielte mit der Zahnspitze zwischen ihren Fingern. Erneut blätterte sie in Gedanken in jenem Lehrbuch und betrachtete die Zeichnung des ausgestorbenen Hais. Dessen Name kam ihr allmählich auch wieder in den Sinn, als steige das Tier selbst aus den Tiefen empor – aus dem unermesslichen Strudel der geologischen Zeit, deren Spannen so lang waren, dass kein Mensch sie je begreifen konnte. Die Buchstaben drangen in ihr Bewusstsein und jagten ihr einen Schauer über den Rücken, als rolle eine Welle über ihren Körper, aufgeworfen von etwas sehr Großem …
Carcharodon megalodon.
Coco rieb mit ihrem Zeigefinger an dem Zahnsplitter, um herauszufinden, wie spitz er war, woraufhin ein Tröpfchen Blut aus ihrer Kuppe quoll.
Kapitel 3
James White biss sich auf die Zähne, während er über den von Palmen flankierten Fußweg ging, der sich am weißen Sandstrand entlangschlängelte. Die verglasten Zellen des Unterwasserhotels schimmerten durch die Oberfläche der ruhigen Lagune. Die friedliche Szene trug jedoch nur wenig zur Beruhigung seiner Nerven bei, als er hinausschaute auf das, was er geschaffen hatte … das luxuriöseste Meereshotel der gesamten Welt. Es handelte sich dabei nicht um einen bloßen Tank oder ein Biotop am Ozeangrund, den man nur erreichte und verlassen konnte, wenn man sich in einer dieser Astronautenmonturen aufs Tiefseetauchen einließ, sondern um ein Gastgewerbe im vollen Umfang mit mehreren Suiten und Gemeinschaftsräumen, angefangen beim Empfang über eine Sporthalle bis hin zu einem Restaurant und es besaß sogar einen Nachtklub. Das alles war über einen unterirdischen Bahntunnel zugänglich, ohne dass die Kundschaft auch nur einen Tropfen Wasser an ihren Körpern spüren musste.
Weit über ein Jahrzehnt lang hatten ihm Lästerer vorgeworfen, nichts weiter als ein unverbesserlicher Träumer zu sein, der fremde Subventionsgelder verschleudere, um seine persönlichen Luftschlösser zu bauen. Morgen früh jedoch, also in wenigen Stunden, würden die ersten Gäste eintreffen! Die scheinbar endlosen Jahre der Planung und Beseitigung bürokratischer Hürden, um das Projekt umsetzen zu können, würden dann endlich Früchte tragen – die unaufhörlichen Anpreisungen gegenüber vermögenden Investoren, die allesamt bezweifelt hatten, dass White ein so ausgefallenes architektonisches Werk vollbringen könnte. Zu guter Letzt war es ihm sogar gelungen, sie zur Bezuschussung horrender Summen breitzuschlagen, die er ohne sie nie und nimmer hätte aufbringen können.
Alles lief auf dieses groß angelegte Eröffnungswochenende hinaus. Falls die renommierten Namen auf der Gästeliste voll des Lobes über ihre neue Erfahrung von hier aufbrachen, würde White bald schwarze Zahlen schreiben und seine engelsgleichen Gönner rückvergüten können. Dann wäre auch endlich sein Ruf als einer der führenden Bauunternehmer der Welt in Stein gemeißelt.
Darum musste unbedingt alles laufen wie geschmiert. Das Terrain der Insel befand sich in einem makellosen Zustand, die Verkehrsanbindung zum Flughafen stand, und der Pier war bereit für diejenigen, die in Großjachten anreisten, genauso wie das Hotel selbst. Alle Betriebsmittel waren vollständig aufgestockt worden, das Personal hockte ebenfalls schon in den Startlöchern. Das U-Boot schied zwar vorübergehend aus, war letzten Endes aber lediglich ein Zubrot und nichts, worauf sich die meisten Gäste unmittelbar nach ihrer Ankunft gestürzt hätten. Vielmehr würden sie die schiere Pracht und die Einzigartigkeit des Ganzen auf sich wirken lassen. Dennoch nagte etwas an seiner Laune.
Während er darüber nachdachte, schlenderte er weiter, denn seit jeher kamen ihm die besten Einfälle immer beim Gehen. Am Ende des Strandes führte der mäandernde Weg in eine opulente Gartenanlage, die wie ein wild wachsender Regenwald aussehen sollte, aber selbstverständlich gezielt angelegt worden war. Er passierte Brotfruchtbäume, Farne und einen bunten Reigen anderer blühender Pflanzen, aber Cocos Worte ließen ihn einfach nicht los: »Ich habe etwas Großes gesehen, das sich bewegt hat.«
Er hatte sie eine Lügnerin genannt, doch was, falls es stimmte? Ein handgefertigtes Holzschild verwies geradeaus auf die Delfin-Lagune des Resorts, wohingegen das Hauptgebäude rechts lag. White bog allerdings nicht ab. Delfine … Welches Problem gab es dort noch mal? Ach ja, fiel ihm ein, als er eine Paradiesvogelblume aus seinem Gesicht schob. Einer wird vermisst. Er hatte angeordnet, die Schleusen und die Umzäunung der Lagune zu überprüfen. Am besten schaute er jetzt gleich dort vorbei und hakte noch einmal nach. Schwimmen mit Delfinen zählte noch vor den U-Boot-Touren zu den bevorzugten Aktivitäten von Urlaubern. White ging weiter, bis er zu einer ruhigen, natürlichen Lagune kam, die vor einem felsigen Abschnitt der Küste lag.
Dort kniete auf einem Schwimmdock eine schlanke Trainerin im einteiligen Schwimmanzug mit einer Pfeife um den Hals. Vor ihr streckten gerade vier Delfine der Reihe nach, ihre Köpfe aus dem Wasser wie Soldaten beim Appell. Die Frau stand auf, als sie White näherkommen sah. Sobald sie den Tieren ein Handzeichen gab, schwammen diese auseinander und flitzten hinaus in die Lagune, um dort unbeschwert miteinander spielen zu können. Er ging hinaus auf das Dock, gerade als sie sich eine lange Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht strich.
»Einen angenehmen Nachmittag, Clarissa. Morgen ist unser großer Tag! Wie läuft es denn?«