Dort geschah jedoch gerade etwas so Aufregendes, dass die Reiseentfernung in den Hintergrund trat. Ein entfernter Cousin, der in Suva arbeitete, hatte ihr von einem unglaublichen neuen Projekt erzählt, das ein australischer Bauträger finanzierte: ein Unterwasserhotel. So spannend Coco das auch gefunden hatte, hatte sie es sich zunächst nur als Urlaubsort vorstellen können, aber nicht als möglichen Arbeitsplatz. Sie war schließlich Meeresbiologin und keine Hauswirtschafterin oder dergleichen. Zumindest hoffte sie das. Andererseits war ihr auch klar gewesen, dass sie früher oder später jede Stelle annehmen musste, die sich ihr bot. Doch dann hatte ihr Cousin auf einmal gesagt, dass man eine Gruppe von Meeresbiologen anstellen würde, um den Hotelgästen umweltbezogene Besichtigungstouren anzubieten und die ihnen dabei helfen sollten, erklärende Beschilderungen im gesamten Komplex zu gestalten, die Informationen zum Meeresleben bieten würden.
Coco hatte das zuerst als weit hergeholt erachtet, aber auch keinen Grund gefunden, der dagegen sprach, es zu wagen. Denn jeder Meeresbiologe im Pazifischen Raum würde sich um einen solchen Job reißen. Nachdem sie ihre Bewerbung online eingereicht hatte, war sie gar nicht davon ausgegangen, je eine Antwort zu erhalten. Eines Tages jedoch hatte sie einen überraschenden Anruf erhalten und war zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden, und ehe sie gewusst hatte, wie ihr geschah, war sie nach Fidschi geflogen – eines der wenigen exotischeren Länder als Hawaii – und das sogar auf Kosten des Unternehmens. Dort geht es noch so zu wie bei uns vor fünfzig Jahren!, hatte eine ihrer Tanten gemeint.
Nach ihrer Ankunft war Coco von einem Gremium der Hotelleitung empfangen worden, das ihr Fragen gestellt hatte, die zunächst, so schien es, überhaupt nichts mit dem Job zu tun hatten. Situationsbezogene Fragen wie »Können Sie uns von einem Moment erzählen, in dem Sie zu etwas aufgefordert worden sind, was Sie nicht tun wollten?« oder »Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie der Meinung wären, ein Aufseher erledige seine Arbeit nicht ordnungsgemäß?«
So war es über eine Stunde lang weitergegangen. Ein halbes Dutzend Personen hatte sie abwechselnd befragt, während die anderen Notizen gemacht hatten, und Coco war die ganze Zeit über bemüht gewesen, sich nicht von der atemberaubenden Aussicht durch das vom Fußboden bis unter die Decke reichende Wandfenster – der unberührten, mit Palmen besprengten Lagune draußen – ablenken zu lassen. Später hatte man dann auch die erwarteten Fragen gestellt, auf die sie bestens vorbereitet gewesen war. »Welche Fische sind das?«, »Benennen Sie diese Korallenart«, »Führen Sie uns durch dieses Unterwasservideo des Riffs, und spielen Sie die virtuelle Fremdenführerin«, »Welche Missstände tun sich an von Menschen gebauten Unterwasseranlagen im Laufe der Zeit auf?«
Damals war es ihr nicht bewusst gewesen, doch was sie von ihren Mitbewerbern unterschieden hatte, waren ihre Antworten auf die erste Reihe von Fragen gewesen. Dank ihrer psychologischen Anlage eignete sie sich perfekt für diesen Job, was sehr wichtig war, aufgrund der Art, wie sie die Öko-Touren mit der wohlhabenden Klientel des Hotels durchziehen sollte. Nämlich in einem Mini-U-Boot. Sie war bereits eine zugelassene Tiefseetauchlehrerin, doch als man ihr den Zuschlag gegeben und ihr mitgeteilt hatte, dass sie die Stelle bekam, verpflichte sie sich zu einer Führerscheinprüfung für U-Boote und war hellauf begeistert gewesen.
Sie hatte sich in ihrem Kopf sofort ihre neuen Visitenkarten ausgemalt: Coco Keahi, Meeresbiologin/U-Boot-Kapitänin. Nicht schlecht! Sie hatte im zarten Alter von dreiundzwanzig ihren Traumjob ergattert: offizielle Meeresbiologin im Triton Undersea Resort.
Als sie nun ihren Blick schärfte, um durch die Scheibe die Wasserlandschaft außerhalb ihres kleinen Fahrzeugs zu sehen, brachte sie das Bild, welches sich ihr vor der gewölbten Scheibe bot, dazu ihren Überschwang zügeln zu müssen. Zu ihrer Linken lag das neuerrichtete Unterwasserhotel. Wenige Fuß über dem prachtvoll strahlenden Korallenriff verband ein mittig verlaufendes Rohr mehrere nierenförmige Bauten miteinander. Mittlerweile wusste Coco, dass es fünfzehn Stück zu beiden Seiten waren. In allen befand sich eine Luxussuite mit drei Zimmern; jede dieser Wohnungen verfügte über einen Aussichtsbereich mit Fenstern aus einem speziellen Kunststoff, einem der Kuppel ihres U-Boots nicht unähnlichen Material, das weite Blicke ins Meer zuließ. Die Seitenwände dieser Zellen, die nur wenige Fuß nebeneinanderlagen, waren die einzigen blickdichten Teile, um die Privatsphäre der Bewohner gegenüber ihren Nachbarn zu wahren.
Momentan waren die Suiten noch unbesetzt, doch morgen sollte die große Eröffnungsfeier des Ressorts stattfinden. Coco war bereit, wollte aber mit dem U-Boot noch einmal zur anderen Seite der Lagune fahren, um die Steilansicht zu üben. Sie hatte nämlich vor, ihre Passagiere zum äußersten Rand der Formation zu bringen, wo sich ein Riss in dem kreisrunden Atoll befand, der direkt in einen Unterwassercanyon führte. Im Grunde war es ein schmaler Meeresgraben, der zu einem viele Meilen tiefen Abgrund wurde. Natürlich würde sie dort nicht eintauchen, denn ihr kleines Fahrzeug war ungeeignet für solche Tiefen, zumal sich der durchschnittliche Hotelgast viel zu sehr fürchten würde. Dort unten war es nämlich extrem finster und man stieß auch nur auf wenig Leben im Vergleich zu den bunten Farben des Korallenriffs in der Lagune.
Coco konnte jedoch bis dicht an den Rand des Abgrunds fahren und die Passagiere anschließend ein paar Sekunden lang in den tatsächlichen Ozean schauen lassen – hinunter in seinen gähnenden Schlund – während sie interessante und leicht verdauliche Fakten auftischen würde … dass die Tiefsee noch lange nicht so gründlich erkundet worden war wie der Mond, obwohl sie unter allen Lebensräumen auf unserem Planeten den größten Prozentsatz ausmachte … und so weiter und so fort … Für eine Meeresbiologin war das sehr unterhaltsames Zeug.
Coco scherte nun langsam mit dem U-Boot aus, bis sie über das ringförmige Riff hinwegfuhr, das den Großteil der seichten Lagune ausmachte und sich vom Hotel entfernte. In diesem von den Turbulenzen des offenen Meeres geschützten Gewässer lag in vierzig Fuß Tiefe der Unterwasserkomplex. Dies bedeutete, dass er tagsüber durchweg gut ausgeleuchtet war, wenn das verführerische himmelblaue Licht in die aquatischen Räume fiel; selbst nachts bei Vollmond konnte man von den Suiten aus dabei zusehen, wie die Strahlen den Garten unter der Oberfläche zum Funkeln brachten. Coco war insgeheim ein bisschen neidisch darauf, nicht selbst in einer der Suiten wohnen zu dürfen. Selbstverständlich hatte sie im Rahmen einer Führung schon darin gestanden, um nachvollziehen zu können, wie die Gäste das Ganze erleben würden, doch bei den Dienstquartieren handelte es sich um eine langweilige Reihe von Bungalows beziehungsweise bures, wie man sie auf den Fidschis nannte. Diese standen gemeinsam mit den übrigen Funktionsgebäuden des Unterwasserhotels an Land.
Geschickt steuerte sie nun das U-Boot unter überhängenden Korallen hindurch und kam schließlich zu einer ebenen Sandfläche, die kurz darauf zu einem felsigen Hang abfiel. Nachdem sie das Fahrzeug zwischen die Korallenwände bugsiert hatte, betätigte sie den Schubknopf und drückte den Knüppel nach vorne, um vorwärts abtauchen zu können.
Sie folgte dem Gefälle ungefähr zehn Fuß weit, bis es abrupt aufhörte. Dies war die Kante des Canyons. Sand rieselte in den tunnelartigen Schlund wie ein Wasserfall aus glitzernden Körnern.
Genau hier … das war perfekt!
Sie schaute zur Seite auf die beiden leeren Plätze neben sich, wo bald schon zahlende Gäste sitzen würden. Das ist so aufregend! Hier und nirgendwo anders musste sie den Blick in den Abgrund gewähren. Nun übte sie die wortreiche Rede, die sie halten würde, wobei ihre Stimme ein wenig in der fast leeren Kabine des U-Boots widerhallte.
»Hier bietet sich ein einzigartiger Blick in …« Sie hielt inne und dachte über die richtigen Worte nach, ehe sie fortfuhr, ohne die Position des