Das Kind schwieg zu den stürmischen Anschuldigungen des Freundes. Doch schon erstand in dem Kinderköpfchen der Plan, beide Reisen zu vereinigen. Vielleicht konnte man über die Ostsee nach der Schweiz fahren. Im vorigen Jahr war man mit Onkel Stadler doch auch für drei Tage dort gewesen.
»Ich habe Geld«, flüsterte der Verführer Jule. »Wenn es nicht langt, weiß ich ein Mittel, noch mehr zu beschaffen.«
»Ich werde mal mit der Mutti sprechen. – Ach ja, an die liebe Ostsee möchte ich, viel lieber als in die Schweiz. – An der Ostsee sind zwar keine hohen Berge, die mit ihren Schneedächern die Wolken durchstechen, aber die Ostsee ist doch viel schöner.«
»Berge hast du hier auch. Die Leute reden nur so dumm! Die Schneekoppe ist der allerschönste Berg der ganzen Welt. Und in der Schweiz sind gewiß keine höheren Berge. Das redet man uns vor, damit wir hinfahren. Bergbahnen haben wir hier auch; Autos kriechen an den Bergen hinan. Es ist alles genau so wie in der Schweiz.«
»O nein«, lachte Pommerle. »Ich habe Bilder gesehen, darauf ist es ganz anders. So hohe Berge sind dort, daß man nicht hinaufsehen kann. Ganz oben sind sie noch lange nicht zu Ende, und immer haben sie Schnee.«
»Die Schneegruben haben auch Schnee«, erwiderte Jule.
Wieder strichen Pommerles Hände begütigend über Jules Wangen. »Laß gut sein, Julchen, ich komme doch wieder, und nach Italien werde ich gewiß nicht mitfahren. Zum Vati kommt am Sonntag noch ein Mann, der will ihn fragen, ob er auch nach Italien kommt.«
Krachend fiel Jules Faust auf den Tisch nieder. »Nach Italien fährst du natürlich auch mit«, schrie er das erschreckte Kind an. »Du kommst überhaupt nicht mehr nach Hirschberg zurück!« Dann drehte sich Jule seiner Arbeit zu und hörte nicht auf Pommerles begütigende Worte.
»Jule – Julchen«, bettelte das kleine Mädchen, »sei doch nicht so wild! – Der Vati sagte schon, daß er allein nach Italien fährt, weil es nur acht Tage sind. Aber es ehrt ihn, wenn ein Mann aus Italien kommt.«
»Der soll mir unter die Finger kommen«, drohte Jule. Wieder hielt er im Arbeiten inne und starrte auf den Kater, der sich von seinem Lager erhoben hatte. Rasch einige Sprünge, der Kater war durch die Werkstatt gesaust und zum gegenüberliegenden Fenster hinaus.
Jule brach in lautes Lachen aus. »Es wird nischt mit der Italienreise! Haste gesehen, Pommerle? Der Kater, der Berater, von rechts nach links – Glück bringt's!«
»Weiß das der Kater so genau?«
»O ja, es trifft immer zu! – Hurra, der Professor fährt nicht nach Italien.«
»Kommst du Sonntag wieder zum Mittagessen zu uns, Jule?«
»Nein, ich lasse das gute Essen lieber ausfallen, als den berühmten italienischen Mann zu sehen. Puh, die Italiener haben alle lange schwarze Haare und fahren in Gondeln spazieren.«
»Komm doch, Julchen! Der italienische berühmte Mann, der den Vati holen will, kommt nicht zum Mittagessen, er kommt erst viel später.«
Jule nahm sich vor, am kommenden Sonntag nicht, wie üblich, in die Bendersche Villa zu gehen. Er ärgerte sich viel zu sehr, wenn schon wieder einer kam, um den Professor aus Hirschberg fortzuholen. Solche Leute störten den Frieden. So war es im vorvorigen Jahr gewesen, als Professor Unold kam. Man mußte die geplante Hörnerschlittenfahrt aufgeben, da dieser Unhold durchaus mit dem Professor sprechen wollte. Und am fünfzigsten Geburtstag Benders waren aus Schweden und Norwegen berühmte Männer gekommen. Beide wollten Pommerle mitnehmen. Wenn nun Sonntag der Italiener kam, mit den schwarzen langen Haaren, würde er Pommerle vielleicht auch – –
Bis dahin kam der Jule in seinen Gedanken. Dann stand es für ihn fest, daß er am Sonntag unbedingt in die Villa gehen müsse, um Pommerle zu schützen.
Am Sonntag stellte sich Jule bereits um zehn Uhr ein. Sonst kam er erst gegen zwölf Uhr, doch heute trieb ihn die Angst so zeitig hierher.
»War der italienische Unhold schon hier?« fragte er.
»Nein, Jule.«
»Ich habe schlimm geträumt. Ein schwarzes häßliches Tier kam auf mein Bett zugekrochen. Plötzlich flog eine Taube in die Luft. Da bellte das Tier und die Taube flatterte immer ängstlicher umher. Ich habe heute früh im Traumbuch nachgesehen. – Pommerle, das bedeutet nichts Gutes.«
»O je«, sagte das Kind bange.
»Hab' keine Sorgen, ich lasse dir von dem italienischen Unhold nichts tun.«
Professor Bender und Frau begrüßten ihren Schützling freundlich. Sie ließen sich von Jule berichten, was er in der verflossenen Woche gearbeitet habe und ob Meister Reichardt mit ihm zufrieden sei.
»Bei uns ist alles in Ordnung«, erwiderte er, »aber hier, bei euch, geht es drunter und drüber!«
»Na, na, Jule«, lachte Professor Bender, »du bist grimmig, weil ich dir Pommerle für einige Monate fortnehme?«
»Eine Wut hab' ich im Leibe, eine Wut – –«
Der gutmütige Professor lachte. Er kannte sein Mündel und wußte genau, daß Jule der weichherzigste Bursche der ganzen Stadt war, daß ihm sein Temperament nur so manchen schlimmen Streich spielte.
»Ich bekomme nachher Besuch, Jule. Verhaltet euch also recht ruhig.«
»Ich weiß schon, der italienische Unhold kommt.«
»Wer kommt?«
»Damals hieß er auch Unhold. – Der, der uns die Hörnerschlittenpartie kaputt machte.«
»Ich glaube, Jule, das wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen. Dann denke aber auch immer daran, daß ein vorwitziger Knabe mit dem Rodelschlitten losging und Schuld daran hatte, daß unser Pommerle ein Bein brach.«
»Es ist ja wieder geheilt«, brummte Jule. »Nun will sie sogar bis auf die hohen Berge, die bis in die Wolken reichen. – Pah, das alles ist ja Schwindel!«
»Also noch einmal, Jule, verhalte dich nachher recht ruhig, wenn Herr Cincendora kommt.«
»Wer?«
»Der Herr aus Italien, Herr Cincendora.«
Mürrisch ging Jule aus dem Zimmer. Er haßte schon jetzt diesen Herrn. Er berichtete Pommerle, daß bald der schwarze Mann käme.
»Du, ich habe von ihm geträumt. Ich weiß, daß die Sache schlecht ausgeht. Das Traumbuch sagt es.«
»Jule – ätsch – das alte eklige Traumbuch, das weiß gar nichts! Nu' komm, ich zeige dir im Garten die blühenden Veilchen. – Wir bringen der Mutti die ersten Blüten.«
Jule, der gleich Pommerle ein großer Naturfreund war, folgte der Freundin. Die beiden hatten bereits ein hübsches Sträußchen gepflückt, als an der Gartenpforte ein Herr erschien, der zögernd stehenblieb, das Haus betrachtete und ebenso zögernd eintrat. Er trug einen schwarzen Hut, den er vom Kopf nahm, als er der beiden Blumenpflückenden ansichtig wurde.
»Der Schwarze«, flüsterte Jule. Er hatte die schwarzen Haare des Fremden bemerkt.
»Das muß ich schnell dem Vati sagen.«
»Bleib hier«, gebot Jule. Ängstlich ergriff er den Arm der Freundin.
Zögernd näherte sich der Fremde den Kindern.
»Verzeihung – ich bin – – ich erlaubte mir – –«
»Ich weiß schon«, unterbrach ihn Jule, »Sie sind der Herr – – der Herr – – Tschingtschingtrara. – Der Herr Professor ist jetzt nicht zu sprechen. Sie brauchen nicht erst ins Haus zu gehen.«
»Aber Jule!« rief Pommerle, die jede Lüge verabscheute. »Warten Sie noch ein