»Mußt nicht immer gleich Krach machen, lieber Jule.«
»Soll ich mich etwa freuen, wenn du weggehst? Ich sag' dir, ich hab' 'ne Wut im Leibe, eine Wut – –«
»Ach, Julchen, hab' doch keine Wut! Du hast immer gleich 'ne Wut im Leibe. Wenn der Sommer vorüber ist, bin ich wieder bei dir. Dann wirst du bald Geselle.«
»Ich soll den ganzen Sommer ohne dich in Hirschberg sein? Gerade im Sommer, wo die Berge ganz besonders schön sind. Wo wir wieder mal nach der Schneekoppe gehen könnten oder nach der Hampelbaude. Ach, ich hab' 'ne Wut, eine Wut – –«
»Mußt hübsch friedlich sein, Jule! Die gelehrten Leute wollen halt, daß der Vati nach der Schweiz kommt. Dort soll er ihnen von den Steinen erzählen.«
»Die Steine habe ich ihm immer gesucht. Als ich noch ein kleiner Junge war, bin ich schon überall im Riesengebirge für ihn herumgestiegen. Darum ist er auch so berühmt geworden. – Er müßte mich eigentlich mitnehmen.«
»Wenn du mal Meister bist, Jule, so ein richtiger, hübscher Tischlermeister, mit schwarzen Locken, wie Meister Grimm, kannst du auch nach der Schweiz fahren.«
»Quatsch! – Ich habe 'ne Wut im Leibe – – Erst fährst du nach der Ostsee und bist fort, dann willst du nach Schweden – –«
»Ich bin doch gar nicht nach Schweden gefahren.«
»Dann brauchst du auch jetzt nicht nach der Schweiz.«
»Ach, doch – ich muß bei der Mutti sein. Sie darf sich mit ihrem spitzen Lungenkatarrh nicht anstrengen. Der Onkel Doktor sagte, ich könnte ihr manche Arbeit abnehmen, und dann wird sie schneller gesund.«
Jule Kretschmar senkte den Kopf mit dem rötlichen Haar. Dabei erblickte er die elf Puppenkinder, die an der Wand saßen. Mit dem Fuß stieß er nach einem gelbgekleideten Puppenmädchen.
»Du«, rief Pommerle entrüstet, »wenn du der Hornblende was tust, haut sie dir eine 'runter! Das darf sie.«
»So ein Quatsch!«
»Das ist kein Quatsch, Jule. Meine Puppenkinder haben berühmte Namen, die in Vaters dickem Buch mit dem blauen Deckel stehen. Über den Granit und die Hornblende hat er viele Seiten voll geschrieben. Und auch über den Basalt und den Marmor. Die Leute, die meinen Vati ehren, haben in Hirschberg schon eine Straße nach ihm genannt. Nun ehre ich den Vati auch und nenne meine Puppenkinder nach dem, was er schreibt. – Verstehst du das, Julchen?«
»Wie heißen sie denn?«
Pommerle wies der Reihe nach mit dem Finger auf ihre einzelnen Puppenkinder. »Das hier ist der faule Granit, der immerfort schläft. Die hier, mit dem zerkratzten Gesicht, ist die Marmora, hier die Erika, die Hornblende. Das hier, mit dem einen Arm, ist der Kalk, der mit dem halben Bein der Basalt, und die ganz dünne, der schon die Hobelspäne aus dem Bauch gefallen sind, ist meine Lavendel. Die hat der Schnapp mal vorgehabt. Deswegen habe ich die Lavendel doppelt gern, weil sie krank und verwundet ist. Vielleicht kommt sie mit in die Schweiz, damit sie auch weiche, warme Luft hat. – Und die Kleine hier ist die Berberitze.«
»Hahaha, der hast du ja die Augen schon eingestoßen!«
»Und doch habe ich sie lieb. Ich muß dann immer an die Sabine denken, an die liebe Tochter deines Meisters.«
»Du, die Sabine hat doch Augen.«
»Freilich, sie stecken ihr noch im Kopf, aber die Augen sind ganz tot und können nichts mehr sehen. – Trotzdem sieht die Sabine mit den Händen. – Na, Julchen, das weißt du ja.«
»Und wie heißt die schmierige Liese hier?«
»Das ist mein Fenchel, und der letzte, der Kleine, ist mein Baldrian. Ich habe elf liebe Puppenkinder. Wenn in der Schweiz wieder mal ein berühmter Mann mit mir redet, wie bei Vatis fünfzigsten Geburtstag, sage ich ihm, daß ich noch gern ein zwölftes Puppenkind haben möchte. Dann ist das Dutzend voll.«
»Ist ja alles Quatsch! – Sag' mir nu' mal wirklich, ob du nach der Schweiz fährst.«
Pommerle blinzelte den Freund verschmitzt an. »Ich war gerade in einem großen, berühmten Vortrag, da hast du mich gestört. Wenn du dich ganz still in die Ecke setzest und zuhörst, erkläre ich dir alles.«
»Ich will doch nur wissen, ob du nach der Schweiz fährst.«
Pommerle reckte beide Arme hoch und legte sie auf die Schultern des hochgewachsenen Lehrlings. Der ließ sich willenlos von Pommerle zusammenknicken und setzte sich auf den Fußboden. Er brummte zwar einige unverständliche Worte, schwieg dann aber abwartend, als Pommerle wieder auf den Tisch kletterte.
»Meine hochverehrten Herren! Ich sehe, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Es ist – – es ist – – es ist ein Rufen an mich ergangen. Diesem Rufen mußte ich Folge leisten. Darum muß ich, meine sehr verehrten Herren, gleich nach Ostern in das Land der hohen Berge, um nachzusehen, aus welchen Steinen diese hohen Berge sind. So etwas, meine Herren, muß gründlich untersucht werden, denn ich muß wieder ein dickes Buch schreiben. Dafür bekomme ich Geld. Dann kaufe ich meiner Tochter Pommerle den kleinen Blumenkasten mit dem vielen bunten Papier – –«
»Ich will wissen, ob du nach der Schweiz fährst!«
»Unterbrechen Sie mich nicht, mein Herr! – Meine Tochter, die – – die – – die meine rechte Hand bei meinen Forschungsreisen ist, nehme ich mit, denn – –«
Jule sprang auf, griff nach dem Stuhlbein und schlug damit auf den Tisch. »Ich hab's ja gewußt, daß in diesem Frühling wieder was Dummes 'rauskommen wird! – Du bist eine Verräterin, Pommerle! Da singst du immerfort das Lied von dem schönen Schlesien, von der teuren Heimat. Und wenn die Heimat grün wird, fährst du entweder an die Ostsee oder gar in die Schweiz, die noch viel weiter ist. Ich habe die Sabine gefragt. Mir kannst du nichts vorreden! Wenn man nach der Schweiz will, fährt man einen Tag und eine ganze Nacht. Dann ist man noch immer nicht aus den hohen Bergen. – Na, ich hab' 'ne Wut im Leibe, eine Wut – –«
»Aber Jule, ich komm' doch wieder.«
»Nein, eines Tages kommst du nicht wieder. Dann muß der Professor erst alle Berge untersuchen. In der Schweiz gibt es so viele Berge, daß er sein Leben lang mit Suchen nicht fertig wird. Wenn ich früher mal einen Tag aus der Schule fortblieb, haben alle mächtigen Krach gemacht. Und du willst von Ostern bis zum Herbst wegbleiben. Das geht einfach nicht.«
»Jule, schimpfe doch nicht so! Du bist immer mein lieber Jule gewesen. Wir spielen so schön zusammen. Ich sehe dir auch so gerne zu, wenn du arbeitest. – Mach mir doch wieder das Stuhlbein dran, mit dem dicken braunen Leim. Und dann laß deine Wut.«
»Pah, mit Leim wird das halten! Wie dumm du bist!«
»Julchen, ich bin doch kein Tischler wie du. Alles kann ich nicht wissen.«
»Dann brauchst du auch nicht nach der Schweiz zu fahren.«
Aus dem Nebenzimmer klangen fünf Schläge, die die große Standuhr ertönen ließ. Jules Augen wurden kreisrund. »Was ist denn das?«
»Unsere Uhr, Jule.«
»Schon fünf? Ich sollte doch eine Viertelstunde vor fünf bei Grimmberg sein, um den zerbrochenen Tisch abzuholen. – Pommerle, ich muß weg! Ich bin nur schnell mal hier hereingesprungen, weil Meister Reichardt sagte, daß der Professor nach der Schweiz will.«
»O weh, Julchen, dann lauf aber fix! Die Uhr geht ganz richtig!«
Jule wollte zur Tür hinauseilen. Da hielt ihn Pommerle zurück. »Nimm doch gleich das Stuhlbein mit.«
Jule griff rasch nach dem Bein. »Das sage ich dir, Pommerle, wenn du fortfährst, hab' ich 'ne Wut im Leibe! – Überlege es dir noch mal, Steine gibt es hier auch, und warme Luft haben wir hier auch. In der Schweiz ist es garstig und kalt.