Der irrende Richter. Max Kretzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Kretzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711502914
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verfängliche Richtung nahm.

      Er sah nicht sein Dienstmädchen in ihr, sondern nur das Weib, und sie vergass ganz den Brotherrn und Landgerichtsrat und hörte immer nur den verliebten Mann sprechen, der ihre Sinne aufstachelte und ihr eine ganz neue Welt offenbarte.

      Halb zog er sie, halb sank sie hin ...

      Auf diese Art war es um ihn geschehen.

      Folgender Dialog schwebte ihm noch wie ein stets sichtbares Menetekel vor Augen, das am anderen Tage mit elementarer Gewalt in seinen moralischen Katzenjammer hineinplatzte.

      „Herr Landgerichtsrat haben mir die Ehe versprochen und mir Ihr Ehrenwort gegeben, mich zu heiraten.“

      „Ich? Aber Käthe, Sie träumen wohl?“

      „Aber der Herr Landgerichtsrat müssen das doch ebensogut wissen, wie ich.“

      „Das kann ich wirklich nicht mehr wissen, Käthe. Sie müssen doch gleich gemerkt haben, dass ich mich in bedenklicher Sektstimmung befand.“

      „Gewiss. Herr Landgerichtsrat hatten einen kleinen Schwips weg, sprachen aber doch ganz vernünftig. Sie haben mich ja förmliche beäthert mit Liebenswürdigkeiten.“

      „Deshalb brauche ich Ihnen doch nicht gleich die Ehe versprochen zu haben. Für so unvernünftig müssen Sie mich nicht halten. Du lieber Himmel, ich habe eben eine kolossale Dummheit gemacht, das gebe ich zu. Sie aber auch.“

      „Ich? Aber Herr Landgerichtsrat! Sie haben ja beinahe auf den Knien vor mir gelegen, so dass ich mich kaum zu retten wusste. Ich wollte ausreissen und war schon an der Tür, da haben Sie so viel gebeten ... Und dann haben Sie den Riegel vorgeschoben und mich gleich umarmt und geküsst, dass ich wehrlos war. Herr Landgerichtsrat wissen, dass ich noch nie gelogen habe ... Mein Gott, wenn das nun meine Mutter erfährt. Dann gehe ich einfach ins Wasser.“

      Diese Worte schwammen in einem Tränenbach, der die Empfindung zu echt lockerte, als dass sie der Landgerichtsrat als bloss gemacht betrachten durfte. Hier offenbarte sich die Natur eines einfältigen Menschenkindes, die ausser der herkömmlichen Reihe an einen Ehrenmann herantrat und sein Gewissen ganz überwältigend aufschreckte.

      „Gut, Käthe, — beruhigen Sie sich nur, ich werde darüber nachdenken.“

      Mit diesem schon halben Eingestehen seiner Schuld ging er in seine Studierstube und dachte gründlich über den „Fall Käthe“ nach, bis ihm allmählich die Überzeugung kam, dass dieser Fall Käthe eigentlich ein „Fall Sonter“ war. Diese Überzeugung kam ihm wenigstens als Richter, nicht als Mensch. Denn nach menschlichen Begriffen hatte Käthe ebensoviel schuld wie er, wenn von einer Schuld bei einem Liebesrausche überhaupt die Rede sein konnte. Denn kein Mensch musste müssen, am allerwenigsten im Spiel der Leidenschaften.

      Jedoch lag dieser Fall wesentlich anders, weil hier ein unbescholtenes und unerfahrenes Mädchen unter dem passiven Zwang ihrer Dienstbotenabhängigkeit gestanden und gesündigt hatte, er somit von dem Vorwurfe der Ausnutzung der Vertrauensseligkeit nicht freizusprechen war.

      Der Richter geriet mit dem Menschen in Konflikt, obwohl schliesslich der Richter mit der Ansicht kam, sein leidenschaftliches Vergessensein sei auf Grund des Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches zu entschuldigen, der bekanntlich gewisse in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangene Handlungen, durch welche eine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist, für straffrei erklärt.

      Landgerichtsrat Sonter fand aber diese Selbstbeschönigung so blamabel, dass er die Gedankenberufung auf den berühmten Paragraphen sofort ausschaltete und nur den menschlichen Standpunkt walten liess.

      Was war geschehen? Ein Herr hatte den Weg zu seiner hübschen Dienerin gefunden und, statt Dank zu ernten, zum mindesten Verständnis, war er mit einer vernichtenden Anklage überschüttet worden, die sogar das fürchterliche Gespenst einer notgedrungenen Eheschliessung an die Wand malte. Zehn andere hätten vielleicht darüber gelacht und sich mit dem Humor der Situation abgefunden, — Leopold Sonter dagegen verspürte die Tragik des Vorfalls, wenn er auch, in Selbstironie übergehend, die Bezeichnung „Tragikomödie“ als die allein richtige erachtete.

      Drei Tage nahm sich Sonter Zeit, über die etwaigen Folgen dieser ad hoc - Eheschliessung, wie er sie nannte, gründlich nachzudenken, bis er zu der Einsicht kam, dass sie immerhin das kleinere Übel sein würde gegenüber den ihm drohenden Nachteilen, wenn dunkle Mächte ihn nicht nur um sein ganzes Ansehen als Mensch, sondern auch als preussischer Richter, brächten.

      In seiner bedauerlichen Gemütsverfassung sah er bereits eine gefundene Mädchenleiche, einen öffentlichen Skandal und schliesslich sein Scheiden aus dem Staatsdienst, was gleichbedeutend auch mit seiner Lebensvernichtung gewesen wäre, denn er war Richter mit Leib und Seele.

      Noch einmal schreckte er vor allem zurück, als sich die kalte Vernunft höhnisch an ihn herandrängte und ihm sein durchgeistigtes Napoleongesicht als lächerlich wirkende Fratze zeigte.

      Als er aber die sonst lebenslustige Käthe still und weltfremd umherschleichen sah, wie sie ihm absichtlich aus dem Wege ging und jedesmal rot unter seinem forschenden Blicke wurde; sie dann eines Abends in ihrem Kämmerlein verloren weinen hörte, als sänge sie schon auf diese Art ihr Abschiedslied von der Welt, fand er nicht den Mut zu einer Beruhigung durch irdische Güter. Er schämte sich auch ein wenig, auf diese Art seine Ehre zu Markte zu tragen und zu dem Geständnis seiner Schuld auch noch die Verachtung mit in den Kauf zu nehmen.

      Denn so sah dieses Mädchen aus: dass es aufspringen und ihm den Rücken zukehren könnte, um dann ihre sittliche Grösse vor ihm in der Tiefe eines Wassers zu begraben. Und dann hätte er niemals mehr mit reinem Gewissen Recht sprechen können, — das fühlte er so mit der ganzen elementaren Wucht eines unbestechlichen Mannes.

      So kam denn der Gang nach dem Standesamt, ein etwas heimlicher Gang mit zwei bezahlten fremden Zeugen, „Urkundenstatisten“, wie sie der Landgerichtsrat grimmig für sein Gedächtnisbuch getauft hatte. Lange hatte er geschwankt, ob er nicht wenigstens seinen Schwager, den Fabrikanten Netzbein, einen sonst besonnenen Mann, ins Vertrauen ziehen solle, aber der hatte den Fehler, alles seiner Frau zu erzählen, und wenn die liebe Schwester erst über ihre neue Schwägerin das Nähere erfuhr, dann fiel sie sicher in Ohnmacht, erholte sich aber schnell und teilte die Geschichte sofort halb Europa mit.

      Es gab da auch einen Kollegen am Landgericht, der in ähnlicher Weise hängen geblieben war, also Verständnis für den Schicksalsgenossen hätte haben müssen; aber auch ihn umging Sonter, denn es erschien ihm als in der menschlichen Natur begründet, dass, wer einmal unbesonnen in eine Grube gefallen war, sich gerne freute, wenn einem anderen dasselbe passierte.

      Wenn Landgerichtsrat Sonter an diesen Gang zum Standesamte dachte und sich dabei den trüben, regnerischen Tag vorstellte, die beiden, übrigens sonntäglich gekleideten „Individuen“ noch vor Augen hatte, die mit derselben Gleichgültigkeit sein Glück besiegeln halfen, wie sie es, ein Gewerbe aus dieser Not machend, schon bei einem Dutzend anderer Pärchen getan hatten (fast jedes Standesamt in Gross-Berlin hat mit derartigen Aushilfezeugen aufzuwarten), dann verfolgte ihn noch immer die Vorstellung, den Weg zum Richtplatz angetreten zu haben.

      Leider war er am Leben geblieben, weil man ihn durch Handschlag und mit Glückwunsch zum friedlichen Aushalten auf diesem seltsamen Planeten, und zwar an der Seite einer frischen, unternehmend aussehenden Lebensgefährtin, begnadigt hatte, und das drückte ihn als die Moral davon.

      Im übrigen hatte er noch in der Erinnerung, dass sich alles sehr kurz und sehr geschäftsmässig abgespielt hatte, ohne jede besondere Aufregung der anderen mitwirkenden Geister, woraus er schloss, dass der Herr Standesbeamte gegen derartige aussergewöhnliche Eheschliessungen bereits ganz abgestumpft gewesen sein musste.

      Noch merkwürdiger aber fand es Landgerichtsrat Sonter, dass man bis heute so wenig Notiz von seiner Heirat genommen, dass sein Leben sich während dieses ganzen Jahres gleichmässig wie immer abgespielt hatte; dass trotz alledem keine Berufsstörung bei ihm eingetreten war, noch weniger sein scharfes Denken nachgelassen hatte. Und er hatte doch geglaubt, mindestens den Verstand verlieren zu müssen, hatte befürchtet, über