Im Sternbild des Zentauren. Verena Rank. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verena Rank
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960894230
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sie und klimpert mit ihren langen, getuschten Wimpern, worauf ich eifrig nicke.

      „Natürlich. Ich kann es gar nicht erwarten.“

      Sie kramt in ihrer riesigen Handtasche und holt ein in silbernes Papier gewickeltes Päckchen daraus hervor.

      „Ich hoffe, es gefällt dir und du kannst es brauchen.“

      Ich nehme Sabrinas Geschenk entgegen und packe es neugierig aus. Zum Vorschein kommt ein kleiner brauner Lederholster mit einem bekannten Logo und ich weiß bereits, was sich darin verbirgt.

      „Ein Schweizer Taschenmesser!“, stoße ich überrascht hervor, während ich das Holster öffne und das Messer herausnehme. „Das ist das Victorinox Evolution Wood. Bist du verrückt? Das ist sauteuer!“

      Sabrina winkt ab und grinst. „Ach was … ist es denn das Richtige? Ich dachte mir, das kannst du gut für deine Survival-Trips und Wandertouren gebrauchen.“

      „Aber wie!“ Ich nicke begeistert, während ich das Multifunktionsmesser aus edlem Nussbaumholz genauer betrachte und die verschiedenen Tools ausklappe. „Ist das geil – es hat sogar eine Schere mit Mikrozahnung!“

      „Was immer das auch ist“, erwidert Sabrina glucksend. „Freut mich, dass es dir gefällt.“

      Ich umarme Sabrina stürmisch, hebe sie ein Stück hoch und drücke ihr einen festen Kuss auf die Wange.

      „Wäre ich hetero, würde ich dir jetzt einen Heiratsantrag machen.“

      Sabrina verdreht gespielt entsetzt die Augen.

      „Gott bewahre!“

      Nachdem ich mir jedes einzelne Tool meines neuen Spielzeugs akribisch angesehen habe, verlassen wir meine Wohnung und begeben uns ein Stockwerk tiefer, zu meinen Nachbarn. Mit Kreon, Anna und ihrer gemeinsamen Tochter Lilly bin ich von dem Tag an befreundet, als ich hier vor etwa vier Jahren eingezogen bin. Kreon ist ein beeindruckender Kerl, der aussieht, als könne er eine alte Eiche mit dem kleinen Finger zum Umkippen bringen. Ich weiß noch, als ich mich am Tag meines Einzugs mit einem Sessel abgeschleppt habe und beinahe mitsamt dem Ding die Stufen hinab gesegelt wäre. Kreon kam mir gerade von oben entgegen. Er erkannte die Situation sehr schnell und hat das schwere Möbelstück und mich quasi mit einer Hand am Abstürzen gehindert. Damit noch nicht genug, hat er den Sessel dann zwei Stockwerke hochgetragen, ohne auch nur ein bisschen außer Atem zu kommen. Anschließend hat er mir und meinen Freunden beim restlichen Umzug geholfen und uns Werkzeug ausgeliehen. Ich hab’ ihn und seine Familie dann zur Einweihungsparty eingeladen und seitdem sind wir Freunde.

      Anna öffnet die Tür und strahlt, als sie uns sieht. Mit ihren schwarzen, langen Haaren und ihrem zarten Gesicht bildet sie das krasse Gegenstück zu ihrem Mann. Anna und Kreon sind Yin und Yang …völlig verschieden, aber untrennbar miteinander verbunden. Ich kenne kein Paar, das einander so vergöttert, wie diese beiden.

      „Hey, ihr Zwei“, begrüßt sie Sabrina und mich fröhlich. „Schön, dass ihr da seid.“ Sie grinst mich an und streckt die Arme aus. „Ben, mein Lieber. Alles Gute zum Geburtstag.“ Ich lasse mich von ihr in eine sanfte Umarmung ziehen und erwidere die Geste.

      „Danke, Anna.“

      Anna umarmt auch Sabrina und bittet uns rein. Wir sind noch gar nicht weit gekommen, als Lilly im Flur auftaucht und lachend auf uns zustürmt. Sie ist vor einem Monat sechs geworden und kommt nach den Sommerferien in die Schule.

      „Ben! Sabrina!“, jubelt sie begeistert und begrüßt uns mit Küsschen und Umarmungen. „Ich hab’ dir was gemalt“, sagt sie stolz und hält mir ein Blatt Papier vor die Nase. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Ihre strahlend blauen Augen funkeln dabei so intensiv, dass ich für einige Sekunden völlig darin versinke. Ich denke an meine eigene Augenfarbe, die ich verstecken muss. Auch wenn Lillys Iriden nicht so intensiv leuchten, sind sie doch auffällig und ungewöhnlich. Ihre Haare glänzen wie Kastanien im Herbstlaub. Ich nehme ihr die Zeichnung aus der Hand und gehe in die Hocke, um sie mit Lilly auf Augenhöhe zu betrachten. Mit ihren sechs Jahren ist die Kleine unglaublich talentiert und so erkenne ich die Szene sofort, die sie gezeichnet hat. Es ist eine ihrer Lieblingsgeschichten aus der griechischen Mythologie, die ihr Kreon jeden Abend zum Schlafengehen erzählt. Die schöne Königstochter Andromeda wird von Perseus, dem strahlenden Helden vor einem grausamen Seeungeheuer gerettet. Dabei hat Lilly kein Detail ausgelassen. Die Prinzessin ist an einen Felsen gekettet, während Perseus mit seinen geflügelten Schuhen herbeieilt, um das Ungeheuer zu töten.

      „Wow!“ Ich pfeife durch die Zähne und nicke anerkennend. „Lilly, das ist unglaublich gut, vielen Dank. Das bekommt auf alle Fälle einen Ehrenplatz.“ Ich drücke sie kurz an mich und stehe dann auf, um Sabrina mein Geschenk zu zeigen. Auch sie ist beeindruckt und überschüttet Lilly mit Komplimenten. Die Kleine ist sichtlich stolz und grinst bis über beide Ohren.

      „Nächste Woche gehe ich mit Papa wieder in die Sternwarte und dann erzählt er neue Geschichten. Vielleicht mal ich dann nochmal was für dich.“

      „Ich freue mich darauf“, antworte ich augenzwinkernd, während wir durch den Flur in die Wohnküche gehen. Als Kreon vom Tisch aufsteht, um uns zu begrüßen, wirkt alles um ihn herum plötzlich lächerlich klein. Seine hünenhafte Gestalt scheint den kompletten Raum auszufüllen. Das rotblonde, dichte Haar trägt er heute offen und so wirkt er mit seinem Vollbart wie ein Wikinger. Als er die Hand ausstreckt, um mir zu gratulieren, sprengen seine Armmuskeln fast das Shirt.

      „Hey, Ben! Alles Gute zum Geburtstag. Schön, dass ihr es geschafft habt, noch vorbeizukommen.“

      „Danke, Kreon.“ Meine Stimme klingt eine Oktave höher, als der Wikinger mir die Hand fast zerquetscht. Ich bin sehr sportlich, körperlich in Topform und besitze viel Kraft, aber gegen Kreon hätte ich im Zweikampf keine Chance. Der Mann ist einfach ein Tier. Als er Sabrina begrüßt, sehe ich genau, wie sie seine Muskeln bewundert.

      „Torte“, säuselt sie eintönig und im ersten Moment habe ich Angst, dass ihr die Muskelberge den Verstand geraubt haben. Doch dann hält sie die Tupperbox mit den Resten von Marlies’ Geburtstagstorte hoch und schaut von Kreon zu Anna. „Bens Stiefmama hat uns Torte für euch mitgegeben.“

      „Oh, das ist aber lieb, danke.“ Anna nimmt Sabrina die Box ab und blickt lächelnd auf ihre Tochter herab. „Willst du etwas von Bens Geburtstagstorte, Schatz?“

      Lilly bejaht die Frage ihrer Mutter mit Jubelgeschrei, während Kreon Sabrina und mir etwas zu trinken anbietet.

      Kurz darauf mampft die Kleine genüsslich ihr Stück Torte, Sabrina und Anna haben sich eine Flasche Sekt aufgemacht und Kreon und ich trinken Helles aus der Flasche.

      „Lilly begleitet mich nächste Woche wieder in die Sternwarte“, sagt Kreon zwischen zwei Schluck Bier. „Habt ihr nicht Lust, uns zu begleiten?“

      „Oh ja!“, meldet sich Lilly von der anderen Seite des Tisches. Sie trägt jetzt einen Sahnebart und grinst breit. „Ihr müsst mitkommen!“

      Ich sehe Sabrina fragend an und sie nickt begeistert.

      „Ich bin dabei“, sagt sie, worauf ich mit der flachen Hand auf die Tischplatte klopfe.

      „Gut, dann ist es beschlossene Sache. Wir freuen uns darauf.“

      Kreon nickt zufrieden und nennt uns Datum und Uhrzeit. Sein großes Hobby sind die Sternbilder und deren mythologische Geschichten dazu. Er kennt unglaublich viele davon und ich bin immer wieder fasziniert von seinem Wissen. Kreon ist Hausmeister an einer Hochschule mit einer eigenen Sternwarte. Seit ich ihn kenne, repariert er dort nicht nur alles, sondern er hält auch alle zwei Wochen Vorträge an der großen Kuppel, auf dem Dach der Schule. Die Augen der zum größten Teil weiblichen Besucher hängen jedes Mal wie gebannt an seinen Lippen (und an seinem breiten Oberkörper), wenn er mythische Sagen von Göttern, Ungeheuern, Helden und anderen geheimnisvollen Wesen zum Besten gibt. Kreon hat etwas an sich, das die Menschen um ihn herum in einen beinahe magischen Bann zieht. In jedem Wort und in jedem Atemzug spürt man seine Leidenschaft