„Was …?“ Ich will mich aufsetzen, doch Sabrina drückt mich sanft zurück. „… ist passiert?“, beende ich meinen Satz und sehe sie fragend an.
„Bleib ruhig, Ben, okay? Alles ist gut, dir geht es gut.“
Ich stutze. „Warum glaube ich dir das gerade nicht? Was ist los?“
Sabrina seufzt. „Flipp jetzt nicht gleich aus, okay?“, sagt sie mit einem warnenden Unterton, bevor sie einen unsicheren Blick nach hinten, über ihre Schulter wirft. Als sie mich wieder ansieht, verzieht sich ihre Miene zu einem Grinsen, das so gruselig ist, dass es mir heißkalte Schauer über den Rücken jagt. In meinem Innersten schrillen sämtliche Alarmglocken, aber ich kann meine aufkommende Panik nicht einordnen. Ich will sehen, was meine beste Freundin mit ihrem Körper zu verbergen versucht, doch sie greift nach meinen Schultern und sieht mich streng an. „Du … flippst … nicht … aus, okay?“, wiederholt sie nachdrücklich, als wäre ich irgendein Psycho und sie meine Verhaltenstherapeutin.
„Warum sollte ich denn ausflippen?“, frage ich verwirrt, während ich mich aufrecht hinsetze. „Was ist denn überhaupt …?“ Der Rest des Satzes bleibt mir im Hals stecken, als sich Sabrina zur Seite neigt und den Blick freigibt. Ich stoße ein entsetztes Keuchen aus und will zurückweichen, dabei schlage ich mir den Hinterkopf an etwas Hartem an, das sich wie Stein anfühlt.
„Autsch, fuck! Was …?!“ Mein Gehirn kann nicht erfassen, was meine Augen sehen. Wir befinden uns in einer Höhle, in der Mitte brennt ein kleines Feuer. Was genau passiert ist und wie wir hergekommen sind, weiß ich nicht mehr. Was mich im Moment viel mehr beunruhigt, ist das, was sich neben dem Feuer abspielt. Verdammt nochmal, ich muss mir den Kopf gerade ziemlich hart gestoßen haben. Das ist Möglichkeit Nummer Eins. Oder aber ich bin tot und in einer Art Zwischenwelt gefangen. Kann aber auch sein, dass ich völlig den Verstand verloren habe. Gleich kommen Männer in weißer Kleidung und weißen Turnschuhen, stecken mich in eine Zwangsjacke und nehmen mich mit.
Wie gebannt starre ich auf die Szenerie, die sich vor mir auftut. Neben dem Feuer steht das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Seine Augen sind trotz des schlechten Lichtes von einem so strahlenden Blau, als würden sie von innen heraus leuchten. Ihr perfekter Körper ist nur von ihrem langen, blonden Haar und ein paar Ketten aus Muscheln und Blättern verhüllt. Was sich allerdings neben dem Mädchen befindet, ist der Grund, warum ich sicher bin, dass es mit mir bergab geht. Andere sehen im Delirium weiße Mäuse, rosa Kaninchen, oder was auch immer. Und was sehe ich? Ich schlucke hart und starre den Zentauren an. Ach Scheiße, nochmal – welcher Geisteskranke stellt sich denn dieses mystische Mensch-Pferdewesen mit dem Oberkörper eines Chippendales-Typen und dem Gesicht eines Elfenkriegers vor? Mit weizenblonden Haaren, die ihm fast bis zur Taille hinunter reichen? Mann, ich bin sooooooo krank! Während ich den Zentauren noch immer anstarre, kommt das schöne Mädchen näher und kniet sich neben Sabrina und mich.
„Hallo Ben.“ Ihre Stimme klingt so engelsgleich, wie sie aussieht. Ich sehe sie fragend an und warte gespannt auf eine Erklärung. „Ich bin Lilaja und das ist Hektor.“ Sie nickt kurz in Richtung des Model-Zentauren, der mich mustert, als wäre ich ein lästiges Insekt. „Wir haben euch im Wald gefunden, du hattest eine Stichwunde, aber dank eines Heiltranks wird nur eine kaum sichtbare Narbe bleiben. Ihr seid hier in Sicherheit.“
Ich schüttle den Kopf und versuche zu verstehen, was Lilaja erzählt, aber ich bekomme es nicht auf die Reihe.
„Was für ein Heiltrank? Was ist das hier?“ Ich sehe mich um und mein Blick bleibt an Sabrina hängen, die mit den Schultern zuckt und schief lächelt.
„Wie seid ihr in unsere Welt gelangt? Menschen haben hier nichts verloren!“ Die bellende Stimme reißt mich aus meinen krampfhaften Überlegungen und ich zucke zusammen. Ich sehe hinüber und bin gerade nicht mehr so sicher, ob der sexy Zentaur wirklich meinen kranken Gehirnwindungen entspringt. Eher nicht, denn dann wäre er nicht so arrogant und unfreundlich. Obwohl ich ihn nicht anstarren will, fesseln mich seine Augen, die wie ein Aquamarin im Sonnenlicht funkeln.
„Ich … wir … waren im Englischen Garten“, stottere ich wirr. „Ein paar Typen haben uns überfallen … der eine hatte ein Messer und …“ Instinktiv greife ich nach meinem Edelstein, doch er ist nicht mehr da. Mir wird vor Schreck heiß und kalt zugleich, ich taste panisch danach, doch er bleibt verschwunden. „Mein Stein!“, rufe ich entsetzt und blickte zwischen den fremden Gestalten und Sabrina hin und her. „Mein Stein ist weg! Ich muss ihn verloren haben, als wir …“, ich überlege fieberhaft und keuche auf, als es mir wieder einfällt, „… als wir gefallen sind.“
„Du hattest einen Portalstein?“ Lilaja sieht mich fassungslos an. „Wie ist das nur möglich?“
Der Zentaur schnaubt abfällig. „Wie sollte ein Mensch in den Besitz eines Portalsteines gelangen?“ Das Wort Mensch spuckt er dabei verächtlich aus.
„Ich weiß nicht, was ein Portalstein ist, aber der Stein war ein Geschenk meiner Mutter“, erwidere ich genervt, denn langsam regt mich der Schönling auf. Ich will aufstehen, aber ein stechender Schmerz hält mich davon ab und ich krümme mich stöhnend zusammen.
„Du musst dich noch etwas schonen“, sagt Lilaja ruhig. „Deine Verletzung ist fast verheilt, aber bis morgen wird es noch wehtun.“ Sie lächelt mich unsicher an.
„Du sagtest gerade, du hattest den Portalstein von deiner Mutter?“
Ich nicke. „Ich habe sie nie kennengelernt. Sie hat mich als Baby bei meinem Vater zurückgelassen – mit nichts als diesem Edelstein. Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“
Lilaja sieht mich nachdenklich an, dann blickt sie von mir zum Zentauren.
„Sie muss aus Mytherra sein“, sagt sie und unterstreicht ihre Aussage mit einem Nicken. „Wenn sie im Besitz eines Portalsteins war, hat sie ihn entweder gestohlen, oder aber sie ist …“ Lilaja neigt sich näher zu mir und betrachtet mich so eingehend, dass es mir schon unangenehm ist.
„Was?“, frage ich unsicher. Lilaja ist sich anscheinend der plötzlichen Nähe bewusst, denn sie weicht rasch zurück und murmelt eine Entschuldigung. Dann steht sie auf und geht hinüber zum Zentauren. Erst als sie vor ihm steht, fällt mir auf, wie gewaltig und muskulös er wirklich ist. Neben ihm wirke sogar ich mit Sicherheit wie ein Zwerg.
„Er ist schön, wie ein Halbgott“, sagt sie halblaut zu ihm, aber Sabrina und ich können sie hören. Meine beste Freundin gluckst unterdrückt.
„Uuuhhh … scheint mir, da hat sich jemand schockverliebt?“, wispert sie mir zu, worauf ich ihr mit dem Ellbogen einen Stoß versetze.
Der Zentaur verschränkt die Arme vor der breiten Brust und zieht eine Augenbraue hoch, was ich zugegebenermaßen ziemlich sexy finde.
„Aber seine Augen …“, erwidert er, während er mich feindselig mustert.
Ich zucke innerlich zusammen und überlege fieberhaft, ob ich auch wirklich meine Kontaktlinsen trage.
„Was ist mit seinen Augen?“, fragt Sabrina an meiner Stelle und legt ihre Hand auf meinen Arm.
„Nun“, antwortet Lilaja. „Seine Augenfarbe ist zu … gewöhnlich.“
Sabrina gibt ein ersticktes Geräusch von sich.
„Gewöhnlich …“, wiederholt sie belustigt und sieht mich verschwörerisch an. „Zeig es ihnen, Ben.“ Ihre Miene ist trotzig und selbstsicher.
Ich schüttle den Kopf. „Nein! Warum denn? Wer weiß, was sie dann mit uns machen.“ Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu. „Du weißt doch gar nicht, ob es gut oder schlecht ist.“
Sabrina rollt mit den Augen. „Wir sind den beiden doch so und so ausgeliefert. Schlimmer kann es ja wohl nicht werden.“