Da klopfte es an das Pförtchen, und eine tiefe Stimme sagte: „Ich bin’s, der Hannes.“
Peter schob den Riegel zurück. Ein stämmiger Bursche kam herein, schloß das Pförtchen und setzte sich neben den Wärtel.
„Heute nacht kommt noch ein Wetter, und was für eines!“ sagte er. „Die Musikanten täten gescheiter und blieben hier. In der Johannisnacht ist der Neckar aufs Ersäufen aus, und Schiffer Stapf ist heute der rechte Mann, ihm dabei zu helfen, denn er hat einen Mordsrausch.“
Der Bursche redete vor sich hin, ohne zu beanspruchen, daß ihm jemand zuhöre. Wie es zum Abschluß des Festtages dem Peter ein Bedürfnis war, herumzuschlurfen, so war es dem Hannes ein Bedürfnis, vor sich hin zu pappeln.
„Herrschaft, war das ein Wesen, bis sie alle untergebracht waren! Mit den Junkern ging’s noch, die machten sich’s bequem und schlenderten zum Nachttrunk in den ‚Löwen‘ Aber die Edelfrauen. Einer Mutter und einer Tochter hab’ ich den Mantelsack ins Zimmer getragen. ‚Hier riecht es nicht gut‘, hat die Alte gesagt. ‚Es stinkt‘, sagt’ ich drauf; ‚aber es geht natürlich zu‘. Drauf fragte die Junge: ‚Ob es wohl hier Flöhe gibt?‘ ‚Ich schätze, daß es gibt‘, sagt’ ich drauf. ‚Denn hier sind zwei Weibsleute und in der oberen Kammer drei.‘ Drauf haben sie mich zur Stube hinausgejagt.“
Der Torwärter stand auf, tappelte in den Hof hinauf und betrachtete im Zwielicht einen liegengebliebenen Stallbesen.
Hannes legte die Ellbogen auf die Knie und erzählte in seinen Schoß hinein.
„Meiner Seel, die Unkosten! Der Junker Landschad ist mit dreizehn Pferden gekommen. Alle Ställe sind voll. Die Häuser der Herrschaft und die Wirtshäuser sind gepfropft voll, daß sie mit ihren Buckeln und Bäuchen schier gar die Dächer abheben. Und immer noch nicht genug! Das liebe Vieh weiß doch, wann’s zufrieden ist. Aber die fressen und saufen in Ewigkeit Amen. Wär’ ich der Junker, tät’ ich so: Jeder kriegt auf der Burg sein Gesatz an Essen und Trinken, wie sich’s gehört. Wer noch mehr will, für den gibt’s Wirtshäuser in der Stadt. — Aber auf Rechnung vom Junker Hirschhorn? Nicht wahr, Hannes? — Prost die Mahlzeit, gnädige Frau! Habt ihr Geld, kriegt ihr was. — Meiner Seel, sie hätten nicht den zwölften Teil Hunger und Durst! — Aber die Gäule? Die sind doch zehrungsfrei? Für ein brav Trinkgeld kriegt jeder Gaul einen Stallplatz, aber Hafer und Heu und was der Roßbub verzehrt, kostet für jeden Gaulskopf zwei Batzen. Hei, wäre jetzt das Städtlein so sauber und so still; neckarauf, neckarab täten sie reiten, was das Zeug hält, damit sie noch heimkommen, ehe das Wetter einbrennt.“
Über solchen und ähnlichen Phantasien schlief der Hannes ein. Der Peter aber geisterte noch ein wenig herum. War es im Tore wie in einem Bratofen, so war es im Stüblein daneben wie in einem Backofen. Peter zog das Losament mit der fliegenden Hitze vor. Er schlurfte schließlich endgültig in die Kemenate und legte sich auf die Pritsche.
Nun wachte niemand mehr in der Burg als der Junker und sein junges Weib. Und hätte man nach schlafenden Menschen gesucht, man hätte nur zwei gefunden, und zwar im Tore, sonst nicht einmal im Wächterstüblein oben auf dem Turm. Der Junker hatte allen seinen Leuten erlaubt, die Nacht in der Stadt oder am Strande oder bei den Johanhisfeuern auf den nächsten Höhen zuzubringen, bis es zu Ersheim Tag läute. In den alten Gassen, in den Schenkstuben der Wirtshäuser, oben auf dem Feuerberg und vor der Neckarpforte auf dem grünen Rasen ging es laut und lustig zu. Die Edelknechte und Edelfräulein tanzten um die lodernden Holzstöße. Die ritterlichen Herren saßen mit den Männern vom Gericht und mit den Bürgermeistern und Vögten des Junkers in den kühlen Stuben am eichenen Tisch und redeten von den bedrohlichen Zeichen der Zeit. Die Edelfrauen wandelten am kühlen Neckar und freuten sich, wie die flammenden Räder vom Feuerberg herunterrollten, Funken sprühten, wenn sie springend, aufschlingend und endlich fauchend und zischend im Neckar versanken. Auf dem Plan aber, über den man zur Ersheimer Fähre herunterstieg, waren Bänke und Tische im Freien aufgerichtet und ein bretterner Tanzboden war aufgeschlagen. Beim qualmenden Licht aufgesteckter Pechfackeln spielten die Odenwälder Musikanten, und das junge Volk wurde nicht müde, sich zu umfassen und im Tanze zu drehen. Hinter den Bergen aber brauten die Luftgeister ein Wetter. Mit schlaffen Flügeln standen sie hoch und schwarz zwischen Himmel und Erde und senkten die Köpfe und schauten mit glühenden Augen in die auf und ab steigenden stillen Wirbel, und aus geheimnisvoll spielenden Fingern quollen immer neue schwangere Dünste und zogen sich, verhohlen qualmend, in den brodelnden Kessel. Von Westen aber flog ein Wind und fing an zu blasen, und siehe, der verstockte Brodem dehnte und flog auseinander wie ein ungeheurer schwarzer Flügel, der sich entfaltet, langsam und doch unheimlich schnell, schwarze Wolken zogen herauf. Es wetterleuchtete, und wenn die Musik nicht spielte und das Volk nicht jauchzte, hörte man ununterbrochen ein fernes dumpfes Grollen. Schwarz, eilfertig und tückisch zog die Flut des Neckars dahin. An die Fähre angebunden war ein breites Boot; darinnen wollten die Musikanten nach Heidelberg hinunterfahren. Es hob und senkte sich unter der ziehenden, schwellenden Flut, kleine Wellchen leckten hinauf; zuweilen klirrte die Kette, und dann atmete es aus der Tiefe, wie wenn dort unten etwas laure.
Auf der Erde aber ging die Liebe um, weiß und gewaltig. Blick und Händedruck wurden getauscht, Mund streifte am Mund vorüber. Die Paare lösten sich vom Reigen und wandelten eng zusammengepreßt den Schatten zu. Der treue Schultheiß von Eschelbach aber verließ die Schenkstube, trat auf die Straße, schöpfte Atem und schaute zu dem dunkeln Schlosse empor. Er faltete die Hände und sagte zu sich selbst: ‚Will’s Gott, setzt in dieser Nacht ein neues Reis an und wächst in viel tausendmal tausend.‘
Friedrich von Hirschhorn und seine angetraute Braut Ursula von Sternenfels standen aneinander gelehnt auf dem Balkon. Hinter ihnen war alles finster. Wohl brannte in der Kemenate die Ampel, aber hinter einem Schirm, so daß die Fenster dieses Gemaches geradeso schwarz waren wie alle übrigen. Auch nicht das schärfste Auge konnte vom Tale oder von der Stadt her die beiden Gestalten aus dem Schatten lösen, der schwer und schwarz den Berghang hinunterhing bis auf die Dächer der Bergstadt. Sie selber aber schauten wie zwei schwebende Vögel vor sich und unter sich das wundersame Bild, das vom bewegten Himmel groß und lebendig zu ihnen herankam und das wie ein phantastisches Kinderspiel schwirrend und flimmernd die stille, nächtliche Erde beunruhigte. Das feuerhauchende Gewölk überspannte Gebirg und Tal. Noch stand der Mond am östlichen Himmel und um ihn her eine kleine Schar von tröstlichen Sternen. Aber diese Insel, von der Wolkenflut umringt, wurde kleiner und kleiner, und Ursula wollte nimmer zu ihr emporschauen, weil jeder Stern, der verschwand, sie traurig machte. Das ferne Grollen war hinterhaltig und kam nicht näher; das Ohr hatte sich daran gewöhnt, und wenn die Braut darauf lauschte und ihrem Gatten sagte: „Hörst du, wie es dort hinten murrt und knurrt?“, dann tröstete er sie: „Laß die Bestien murren und knurren; sie kommen nicht zu uns herüber.“
Zu Füßen der Schauenden lag das schattenerfüllte, schweigende Finkenbachtal, und die schwarzen Stücke finsterster Nacht, die hier und dort dicht unter der Burgmauer die Schatten umhüllten, verrieten den gähnenden Schloßgraben. Der Zug des Neckars flimmerte zwischen den Bergen vor und im Tale her und zeigte die huschenden Himmelsflammen im stillen Abbild. Es sah aus, als ob er, ein Verbündeter der Wetterwolken, aus ihrem Dunkel herwärts käme, während er doch in Wirklichkeit dem Gewitter entgegenflutete.
Gegenüber diesen machtvollen Vorgängen am Himmel und auf Erden erschien alles, was die Menschen taten, winzig und putzig: das Feuer auf dem Berg, die glühenden Scheiben und flammenden Räder, die hin und wieder huschenden Fackellichter, die schwarzen Gestalten am Strand mit ihrem wunderlichen Hinundherlaufen. Nur die freundlichen Lichter des Städtleins taten den Augen wohl in ihrer Ruhe und Traulichkeit; sie erinnerten an die Sterne am Himmel, wie Menschliches an Göttliches erinnern kann.
„Hörst du die Trompete?“ sagte Ursula zu ihrem Gatten und beugte sich lauschend über die Brüstung. „Ihr Ton schwingt sich in die Höhe wie ein Falke.“