Adolf Schmitthenner
Das deutsche Herz
Saga
Das deutsche HerzCoverbild/Illustration: Sutterstock Copyright © 1908, 2020 Adolf Schmitthenner und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642926
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1
Aus dem weiten und warmen Busen des Schwabenlandes rauscht der Neckar dem Odenwald zu. Er verschmäht es, durch die niedrigen Hügel des Kraichgaues zu brechen; er will seine Kraft an den Lenden eines Gebirges erproben. Oder es geht ihm wie einem verwöhnten Muttersohn: es ist ihm zu wohl geworden im bequemen schwäbischen Bürgerhaus, er will ein wenig auf Ritterschaft in die Büsche hinein.
Was nun auch der Grund sei, eigensinnig hält er die Richtung nach Norden fest und bohrt sich ins Gebirge hinein, wo es am höchsten emporsteigt. „Dort ist der Rhein!“ spricht zu ihm der Katzenbuckel und drückt ihn links hinüber. Und nun ist es, wie wenn des unschierigen Mahners Rippenstoß das Gewissen des träumenden Burschen geweckt hätte. Ungestüm und doch mit der Hoheit, die dem deutschen Strome ziemt, bricht er sich nach Westen die Bahn. Leidenschaftliche Sehnsucht gibt ihm die Kraft, die Felsen auseinander zu schieben oder zu durchbrechen und das Gebirge zu zerteilen bis auf den Grund. Und doch tut er zuweilen wieder, wie wenn er sich nicht trennen könnte von diesen grünen, runden Bergen; er schmiegt sich daran fest und hält sie umschlungen mit seinem glänzenden Arm, also daß, wohin auch der Abhang sich senke, des Neckars Woge zu ihm aufrauscht. Strom und Gebirge rüsten sich zum Abschied. Es wird ihnen feierlich zumute, und die große Empfindung gibt ihnen ein erhabenes Ansehen. Stolzer steigen die Berge empor, näher rücken sie an den Strom heran, höher schäumt die Woge, majestätischer blinkt die gleitende Flut. Der Neckar und der Odenwald halten Abschied. Wie eine entfesselte Schlange schießt der Fluß in die Ebene hinaus, genießt der Freiheit in weitem, wohligem Bogen, und dann streckt er sich dem blinkenden Rheine entgegen. Das Gebirge aber reckt sich und schaut dem enteilenden Freunde nach mit einem langen, stillen Blick. —
Über dreihundert Jahre sind vergangen seit dem Tag, wo unsere Geschichte anfängt. Am Fuße des Königsstuhles rauschte der Neckar lauter, als er heute rauscht, denn man war den Granitblöcken, die im Strombett liegen, noch nicht mit Pulver und Dynamit zu Leibe gegangen. Viel mehr Waldvögelchen als heute netzten ihre Schnäbel im Neckarwasser, denn man hatte die Ufer des Flusses und der Seitenbäche noch nicht von dem tausendfältigen Buschwerk gesäubert und ieß die lieben Hecken wachsen, wo sie wachsen wollten. Die Reiher im Reiherwald hatten herrliche Tage, denn den Junkern war die Falkenjagd abhanden gekommen und der Neckar wimmelte von Fischen. Oh, wie es in einer lauen Sommernacht unter dem Ersheimer Kirchlein schnalzte! Die Fische waren wie trunken vom Mondenlicht. Zuweilen klang es plump und grob vom Neckar her, wie wenn ein Pfundstein ins Wasser fiele. Das war ein alter Hecht, der ein Maulvoll Sommernachtlicht geschnappt hatte, oder ein würdevoller Salm, der bei sich dachte: ‚Ich komme auf des Junkers Tisch, das ist mein verbrieftes Recht‘, und bei diesem Selbstgespräch vor Hochmut durch die Luft sprang. Nachtigallenchöre sangen herüber und hinüber über den schimmernden Strom, und die Turteltäubchen gurrten aus dem Wald. Es ist keine Frage, bei Nacht war es damals schöner im Neckartal als heute. Bei Tag dagegen ist es heute lustiger. Noch nicht floß vor dreihundert Jahren der grüne tiefe Strom des Waldes von Berg zu Berg und ins Tal herunter bis zu den Neckarwiesen. Man wußte nicht, was man mit dem Holz anfangen sollte, und rodete sinnlos bald hier bald dort für ein paar Jahre; dann ließ man wieder die Buchen und Eichen hereinwachsen über den ausgeraubten Boden und fing wo anders an. So sah man rechts und links auf den Höhen nur dürftige Roggenfelder oder unerfreulichen Lausewald. Die Berge, worauf die Burgen liegen, waren völlig kahl, und die Schlösser, als sie noch ganz waren, sahen sehr weißgetüncht, nüchtern und behäbig aus, halb ritterlich, halb bäuerlich. Der Torwärtel saß in Schlappen auf dem Bänklein, sagte: „Hä!“ und aß ein dickes Käsebrot.
Die Dörfer und Städtlein, die heute im Neckartal liegen, waren damals schon alle miteinander da; ja noch einige Flecken und Weiler mehr, die in den späteren Kriegsläuften abhanden gekommen sind. Die Dörfer sahen ungefähr geradeso aus wie heute, nur gackerten viel mehr Hühner, und wenn man einen Bauern gefragt hätte, was ihm von der ganzen Welt das liebste sei, so hätte er gesagt: das Schwein und noch einmal das Schwein und zum drittenmal das Schwein. Oh, wie es so köstlich grunzte des Winters in den Ställen und des Sommers in lauschigen Talbuchten unter dem jungen Eichwald! Mit den Städtlein aber, wie Eberbach, Hirschhorn, Steinach, Gemünd, hatte es zu jener Zeit ein ganz andres Wesen als heute. Sie staken in Schanz und Wehr, waren von Mauern umgeben, hatten ein Neckartürlein, ein Bergpförtlein, ein Vordertor, ein Hintertor und ein Mitteltor. Auf den Wällen standen einige Katzenköpfe und andres grobes Geschütz. Es läutete sehr oft, bald dünn, bald dick, und jedermann wußte, was es bedeute. Des Morgens früh, ehe der Tag graute, mahnte die Betglocke: befehlet Leib und Seele dem Herrn und steiget flugs aus dem Bett! Des Abends in der lichten oder dunklen Dämmerung rief dieselbe Glocke die spielenden Kinder in die Häuser; auch die Knechte und Mägde kamen herein. Alle standen um Vater und Mutter herum und beteten der Reihe nach:
„Als unser Herr in Garten ging
und sein bitteres Leiden anfing.“
Des Morgens um elf Uhr rief ein helles, weit klingendes Glöcklein die Mähder und Holzfäller zum Mittagsmahl. Und dasselbe Glöcklein verkündete des Winters um drei und des Sommers um vier den bekümmerten Mägen rings in der Rund: jetzt gibt’s wieder etwas zu essen. Um neun oder um zehn Uhr des Abends läutete die Lumpenglocke, und der Schiffer Stapf zu Hirschhorn stülpte den Würfelbecher um und sagte: „Gute Nacht, Löwenwirt!“ Auch das Bürgerglöcklein hatte mancherlei zu sagen. Es rief die Mannsleut zur Frond oder die Schöffen zum Gericht. Mitunter gellte die Sturmglocke, dann rannten die Leute wie besessen auf die qualmende Gasse und schrien: „Wo, wo?“ Wenn aber die große Glocke mitläutete, dann ließen die Bürger alles stehen und liegen, sprangen in verteilter Ordnung an die Tore und verriegelten und verrammelten die eichenen Flügel. Mitunter kam auch das Armsünderglöcklein in Schwung. Dieses geschah jedesmal eine halbe Stunde später, als der Meister Henker mit seinem Knecht auf der Fähre über den Neckar gefahren war. Das Armsünderglöcklein läutete unterschiedlich lang. Wenn nichts als der Block und das lange Richtschwert auf dem Wägelein des Scharfrichters lag, war das Glöcklein bald zu Ende; wenn aber bei den übrigen Gerätschaften ein schweres eichenes Rad mit dicken Speichen über dem Wägelchen lag, dann läutete die Glocke lange, ach, furchtbar lange, es waren keine einzelnen Schläge mehr, sondern ein fortgehendes Heulen und Wimmern. Wenn es endlich aufgehört hatte, dann wurde dem Meister, wie es anders unbillig gewesen wäre, zu seinem höchsten Lohn noch ein starker Imbiß verehrt. Während nur die Armsünder auf dieses Glöcklein Anspruch erhoben, war die übrige Menschheit, mit Ausnahme derer, die sich selber aus dem Leben beförderten, mit der allgemeinen Totenglocke zufrieden. Diese Glocke läutete nach keiner irdischen Uhr, aber der, den sie meinte, war immer bereit; beim ersten Schlag machte er sich schleunig auf, und lang hingestreckt fuhr er über den Neckar, dem Ersheimer Friedhof zu.
So war das Neckartal zwar damals noch ohne die tausend Geräusche der heutigen Zeit. Kein Dampfschlepper brüllte, keine Lokomotive pfiff, kein Güterzug polterte, kein Automobil blökte, kein Fahrrad klingelte, aber viel mannigfaltiger und eindringlicher redeten Glocke und Glöcklein in das Leben der Menschen hinein.
Wenn diese Leute einmal zu ernster Feier oder zu Spiel und Scherz beieinander waren, wie sah die Versammlung doch so stattlich aus! Die kurzen, stämmigen Bauern in Wams und Lederkappe, die Bürger in ihren pelzverbrämten Röcken und kübelartigen Pelzmützen, die man für wunderschön hielt, weil die Tracht von weither kam; sie kam aus dem Lande der wilden Kroaten, von denen man aus den Türkenkriegen her viel erzählte. Die Junker gingen im Barett und im bequemen Flaus oder im engen, düsteren spanischen Gewand,