Das deutsche Herz. Adolf Schmitthenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Adolf Schmitthenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726642926
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Wärest du mit dabei gewesen auf einer Kirchweih in Gerach oder auf dem Jahrmarkt in Hirschhorn, nach einer Weile hättest du gemerkt, daß die Leute kein Kauderwelsch reden, sondern Deutsch, und hättest sie auch bald fast ganz verstanden und hättest dich gefreut, wie sie so frisch und kernig und lustig drauflos redeten, sangen und lachten. Auch hättest du manch ein Mägdlein und manch eine Ehefrau gesehen, die dir herzlich Wohlgefallen hätte, und nicht allein dir, sondern auch deinem Herrn Bruder und vielleicht sogar deinem eigenen Schatz. Die Kinder glichen den heutigen am meisten. Sie aßen gerne Äpfel und hatten nichts dagegen einzuwenden, wenn der Lehrer auch einmal außer der Reihe Ferien gab. Ein schönes Leben hatten die Kinder. Denn so bucklig und verschunden die Landstraßen waren, so waren sie doch viel reicher an buntem Leben und Treiben, an Sang und Klang, freilich auch an Seufzen und Wehklagen, als sie heute sind. Täglich gab es irgend etwas Herrliches, Fremdartiges, Rauschendes oder Klirrendes zu sehen, was die Straße gesprengt oder getrabt oder gefahren oder gewandert kam. Die heutigen Kinder des Neckartals wären aus dem Gaffen gar nicht herausgekommen. Wären sie und ihre Kameraden von damals sich gegenübergestanden, so hätten sie sich freilich verwundert angeschaut und hätten zueinander gesagt: ihr seid einmal sonderbar ausstaffiert! Hätten sich aber beide Parteien in holder Nacktheit in ihr eigentliches Element, in den Neckar, gestürzt und hätten sich darinnen getummelt wie die Fische, so hätte man die Knaben von damals und von heute nicht voneinander unterscheiden können: dieselben rosigen Gesichter und die gleichen flachsgelben Haare, vor allem aber die nämliche kurze stumpige Gestalt, weshalb ja auch die Burschen aus dem Neckartal zu Mannheim und zu Worms in der zwölften Kompanie standen, bei den „Mündungsdeckeln“, während sie damals von den hochgewachsenen Leuten der Ebene die „Grampen“ genannt wurden. Sie selbst aber bezeichneten sich mit Stolz als „Neckarschleim“, und ein Zimmergesell aus Heidelberg hatte ein neu Lied gedichtet, dessen Kehrreim lautete:

      „Wir sind ein jung frisch Neckarschleimer Blut,

      Neckarschleimer Blut.“

      Wenn nun wir Leute vom heutigen Tag in das Wesen und Treiben der Neckarschleimer vor dreihundert Jahren hineinschauen, müssen wir einmal übers andre Mal den Kopf schütteln und sagen: „Allhier geht’s wunderlich zu.“ Wenn ein Rechtsbeflissener alles, was gültig und Rechtens war in Stadt und Dorf, in Weiler und Mühle, in Burg und Stift, schwarz auf weiß in Lehensbriefen, Pfandscheinen, Schenkungsurkunden, Zinstabellen und Zehntbeschreibungen hätte sammeln wollen, er hätte mit einem vierspännigen Planwagen fahren müssen, um all das Papier und Pergament mitzunehmen, und wenn einer in einem kleinen Dörflein wie in Mückenloch oder in Igelsbach von Haus zu Haus und von Mensch zu Mensch gefragt hätte, wer alles an den Gefällen, an den Gilten, Zehnten und Frondrechten Anteil habe, er wäre verrückt geworden, noch ehe er zum halben Dorf draußen gewesen wäre. Aus all dem kunterbunten Zeug der siebenundvierzig und dreiviertel Herrschaften, die sich in Recht und Macht teilten, wären doch schließlich zwei als die vornehmsten herausgetreten, das Kurstift Mainz und die Kurpfalz, und unter den einzelnen Herren, deren Hände zu füllen waren, wäre keiner häufiger genannt worden als der Junker von Hirschhorn. Hätte man irgendwelchen Juden oder Müller oder Schiffmann oder Bauern oder Knecht gefragt: was hast du dem Junker von Hirschhorn zu leisten, so hätte unter zehnen kaum einer gesagt: nichts; die andern alle hätten etwas zu nennen gehabt, sei es sieben Batzen oder zwei Sester Korn auf Martini oder einen Hahnen auf Ostern oder einen Brotkuchen auf den Stephanstag. Und hätte man verwundert gesagt: Muß doch ein reicher Herr sein, der Junker von Hirschhorn, so hätte der Jude gerufen: „Reich? Grausam reich! Allen hohen Herren hat er Geld geliehen.“ Der Müller aber hätte gesagt: „Hundert Dörfer sind sein eigen, und der Erzbischof von Mainz, sein Lehensherr, hat ihm zu Ladenburg einen Kuß gegeben, obgleich der Junker lutherisch ist.“

      Das war damals allerdings ein großes Stück, denn die Religionen standen sich damals in Deutschland feindselig gegenüber. Im südlichen Odenwald jedoch ging es auch in Glaubenssachen so buntscheckig wie möglich zu. Wenn einer ein Pferd von mäßiger Gangart hatte, so konnte er an dutiem Tag katholisch frühstücken, lutherisch zu Mittag essen und auf reformiert den Abendimbiß einnehmen.

      Ja, es ging wunderlich zu bei den alten Neckarschleimern.

      Aber die liebe Sonne schien damals in den Tagen, die die längsten sind, geradeso lieb und warm, wie sie uns geschienen hat an dem letzten längsten Tag, den wir verlebt haben. Und die Haselstaude hatte damals geradeso weiche grüne Blätter, wie die waren, die wir im letzten Juni durch die Finger gleiten ließen. Und es gibt heute keinen spitzbübischeren und abgefeimteren Fuchs im ganzen Odenwald, als es der alte Fuchs war, der damals am Johannistage im hellen Sonnenschein vor der Haselstaude lag, sich den Bart leckte und seinen beiden hoffnungsvollen Knaben vergnüglich zublinzelte. Die kleinen Füchslein spielten vor ihrem Vater auf einer Waldblöße, bis sie müde waren, dann legten sie sich dem Alten zwischen die Pfoten und baten ihn: „Erzähle uns etwas.“

      „Heute hat der Junker Hochzeit“, antwortete der Alte.

      „Wie ist denn das, wenn man Hochzeit macht?“, fragte der jüngste der beiden Buben und drückte die Augen geradeso pfiffig zu wie sein Vater.

      „Das verstehst du nicht, du bist noch zu jung“, erwiderte der Vater.

      „Kriegen wir auch etwas von der Hochzeit?“, fragte das andre Füchslein.

      „Ja, Hasenbraten.“

      „Wieso, liebster Vater?“

      „Der Junker hat auf Hirschhorn fünf Forstwärtel, die haben heut und morgen fünf große Räusche. Er hat auf der Burg fünfundzwanzig Hetzhunde, die haben heut und morgen vielhundert Knochen zu beißen. Der Junker selber denkt nicht ans Jagen, wohl vierzehn Tage nicht. Wenn er zum erstenmal wieder herauskommt in den Wald, nimmt er keine Hunde mit, sondern seine schöne junge Frau.“

      „Wie heißt sie denn?“ fragte der älteste Sohn.

      Der Vater besann sich eine Weile und sprach: „Sie heißt Fuchsia.“

      „Das ist ein schöner Name, Vater.“

      „Freilich. Wenn er zum erstenmal hier herauskommt, geht die liebliche Fuchsia an seiner Seite. Da denkt er nicht ans Jagen. Folglich?“

      Die beiden Knaben schwiegen.

      „Folglich?“ wiederholte der Alte in strengem Ton.

      „Folglich sind wir die Meister im Wald“, sagte der ältere Knabe.

      „Ja“, bestätigte der Vater. „Und wir fangen fette junge Hasen.“

      „Junge fette Hasen!“ lachte der Jüngste und schlug vor Vergnügen einen Purzelbaum.

      In diesem Augenblick rief eine Menschenstimme: „Ein Fuchs!“

      Im Nu waren der Vater und der älteste Sohn verschwunden. Der jüngste aber überschlug sich und fiel einem blondlockigen Knaben in die Arme. Der hielt das Füchslein lachend an den Ohren fest. Das Kerlchen wehrte sich, warf sein Unterkörperchen hin und wider und biß um sich, daß es eine Lust war. Endlich fing es in der Todesangst zu hofieren an. Der blonde Knabe erschrak, aber blitzschnell drehte er das Tierlein um, so daß es vorwärts schaute, und hielt es mit gestreckten Armen von sich. Steif und still hing es da und vollendete sein Geschäftchen so säuberlich und anständig, daß sich jedes Heddesbacher Büblein hätte ein Vorbild daran nehmen können. Dann fing das Bürschlein wieder zu zappeln und zu schnappen an, aber nimmer lang. Der Knabe warf das Tierchen über seinen blonden Kopf rückwarts in das Dickicht hinein, dann wandte er sich um und schaute mit blitzenden Augen den Weg, den er gekommen war, zurück ins Tal hinunter.

      2

      Während der alte Fuchs blinzelnd seinem Söhnlein zuhörte, das mit großen Gebärden von seiner Heldentat erzählte, vergoß einige hundert Schritt weiter oben der Brummbaß von Affolterbach dicke Schweißtropfen. Er blieb stehen, beugte sich vornüber und stemmte die Hände auf die Knie. Der Bauch der Baßgeige lag über seinem Kopf, und ihr Hals hob eine entwurzelte Hainbuche aus dem zerbröckelten Boden.

      Die Viola, die mit langen, dünnen Beinen die Waldhalde heraufgestiegen kam, lachte aus vollem Hals und rief in die Büsche zurück: „Guckt einmal,