„Du weißt zu viel“, sagte Ursula und zog ihn aus dem Erker in das Wohngemach. „Was tot ist, muß man vergessen. Wir wollen schlafen und von der Zukunft träumen.“
Er löschte die Ampel im Wohngemach. Im Finstern öffnete er die Tür, und sie schlüpften in den finsteren Gang. Er machte die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Auf den Zehen schlichen sie an der Wand hin. In der Mitte des Weges blieb Ursula stehen wie gebannten Fußes und ging keinen Schritt weiter. Vom Fenster her aus dem Burggraben erscholl ein herzerschütterndes Weinen und Klagen: „Mutter, Mutter, Mutter, Mutter!“
Immer nur dies eine Wort: „Mutter, Mutter!“
Da geschah etwas Wundersames. Ursula nahm die Klage auf und fuhr in ihr fort. Und wie sie nun so seufzte und weinte: „Mutter, Mutter!“, da klangen die beiden Stimmen zusammen wie zwei Saiten von einer Harfe, wie zwei Reime in einem Lied.
Da umfaßte Friedrich seine Braut, hob sie auf und trug die Schluch zende in die Hochzeitskammer.
Ein gedämpftes Licht kam ihnen entgegen. Er schloß die Fenster und verriegelte die Türen.
Die Burg lag im schwarzen Schweigen. Das Wetter hatte die Wehr der Wälder und Berge überwunden. Ein Windstoß fegte über die Giebel und heulte im Turm. Die Geister, die um die Mauern und Zinnen webten, die harten Gespenster mit ihren bösen Erinnerungen und die zarten Seelen ungeborener Geschlechter stoben auseinander. Die Blitze waren selten, aber der Donner fiel krachend hinter ihnen her und über sie herein. Es fing zu regnen an und zu hageln, es prasselte auf die Blätter, es klatschte an die Wände. Bald war es ein stiller, starker Guß. In Ersheim läutete das Glöcklein von neuem. Das heftige Geschrei der Streitenden klang vom Neckar herauf. Ein Schiff stieß ab vom Lande. Jetzt fuhr es unter der Burg hin. Der Lärm war vom Land ins Wasser gestiegen. Die polternde Stimme des Fährmanns übertönte alles. Mit ihr rangen zwei, drei andre in wüstem Streit. Da erscholl die Trompete. Ein langgezogener Ton wie ein Feuerstreifen, dann eine helle Fanfare. Leise zitterte sie aus, dann schwoll der Ton, und ernst-feierlich klang durch das Tal die große Weise, die alle Hochzeitsgäste so tief bewegt hatte. Die Streitenden waren verstummt; kein Donner, kein Blitz, kein Sturm. Nur leise Ruderschläge und das heilige Lied. Viele Hände von Wachenden, von Betenden, von Gedenkenden falteten sich. Manch eine Maid sah den schönen jungen Trompeter vor den geschlossenen Augen. Und mancher Mund sagte, während das Herz lauschte:
„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
Hin geht die Zeit, her kommt der —“
Der Klang brach ab. Ein Todesschrei, gräßlich, daß alles Lebendige erstarrte — und es ward still.
Der Mond trat aus den Wolken und schaute ins traute Tal. Befriedigt zog der Neckar dahin. Seine plätschernden Wogen spielten träumerisch mit einem umgeworfenen Nachen.
4
Der Schrei war in ganz Hirschhorn gehört worden. Alsbald machten sich die Leute der Schiffergilde auf. Wer unter ihnen trunken war, wurde nüchtern. Rasch waren die Boote bemannt, und von Fackelträgern begleitet, kreuzten die Fischer nach verabredetem Plan und suchten in der Hefe, im Felsgeröll, unter den Weidenbüschen. Noch in der Nacht wurden die Viola, der Pfeifer und die Posaune geborgen und am Ersheimer Friedhof ausgeschifft. Im Morgengrauen fand man den Brummbaß und Findebusch. Die Arme des Knaben waren im Gewände des alten Mannes verfangen. Der eine hatte den andern retten wollen und war von ihm in die Tiefe gezogen worden. Gegen Mittag kam ein Bote aus Neckarhausen gelaufen mit der Nachricht, daß der Fischer Stapf und der sechste Musikant am Hofe, gegenüber ans Land geschwemmt worden seien. Alsbald wurde von Ersheim ein Wagen dorthin geschickt, und am frühen Nachmittag kam die traurige Fracht zu Ersheim an. Man legte die sieben Ertrunkenen in einer Reihe hin, unter die Kirchhofmauer an den Rain.
Eine große Menschenmenge strömte herbei. Von Hirschhorn fuhren sie herüber, von Eberbach und von Pleutersbach kamen sie, von Moosbrunn und Haag eilten sie herunter. Die Knaben und halbwüchsigen Burschen sprangen auf den Landstraßen daher, wie wenn es etwas zu versäumen gäbe, und vor dem Kirchenplatz und auf dem Friedhof standen sie Kopf an Kopf. Die Kleinen wurden von ihren Müttern in die Höhe gehoben und die Dirnen stießen einander mit den Ellbogen zurück. Mit weit aufgesperrten Augen schauten die Leute auf die sieben toten Männer, und wer etwas von dem einen oder dem andern der Fremdlinge zu sagen wußte, war für die begierigen Ohren der Nachbarschaft ein wichtiger Mensch. Aber auch für die Allgemeinheit gab es zu hören, und zwar ausgiebig. Die Frau des Fährmannes Stapf tobte, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit war, und ihre fünf Kinder schrien, und zwar um so ärger, je kleiner sie waren. Das kleinste fürchtete sich vor den vielen Leuten, das nächste entsetzte sich vor seiner Mutter, dem dritten war ein Heddesbacher Lümmel auf den nackten Fuß getreten. Die beiden größeren standen da und weinten still um ihren lieben Vater, während die Frau des Schiffers sich auf die Leiche warf und dann wieder händeringend aufsprang und ein Mal übers andre rief: „Ach Gott, ach Gott, du armer Teufel, du armer Teufel!“
So wurde dem Einheimischen sein gutes Recht auf eine anständige Totenklage reichlich zuteil. Die Fremden wurden mit kritischen Augen beguckt und begutachtet, und die älteren Bürger sagten zueinander: „Die Unkosten müssen von der Herrschaft bezahlt werden.“
Plötzlich rief jemand: „Alleweil fahren der Junker und seine Frau herüber.“ — „Der Junker und seine Frau!“ rief es. — „Seine Frau auch?“ — „Ja, seine Frau!“
Und nun wandte die ganze Gesellschaft den Leichen den Rücken zu, Frau Stapf nicht ausgenommen, und die vorhin am übelsten daran waren, waren jetzt die vordersten und konnten am besten sehen. Beim gestrigen Einzug war die neue Herrin nur den wenigsten zu Gesicht gekommen, denn die kurze Straße durch das Städtlein war vom Zug der ritterlichen Gäste und ihrem Gefolge angefüllt, und das alte Karmeliterkirchlein war gar klein. Darum drängten sie jetzt alle, die Frau zu betrachten.
Sie stand neben ihrem Gatten im Nachen. Die beiden großen, schönen Menschen, er in seiner frischen Männlichkeit und sie in ihrer blühenden Jugend, boten einen Anblick, wie ihn das Volk gerne und herzlich genießt. „Ein sauberes Weibsbild!“ sagten die Leute zueinander; ein kleines Mädchen faltete andächtig die Hände und ein anderes rief: „Sie fahren durch einen Regenbogen hindurch.“
Da Friedrich alle Fährleute auf dem jenseitigen Ufer vermutete, hatte er den Hannes vom unteren Tore mitgenommen, damit er ihn und sein Weib hinüberrudere. Der Bursche hatte während der Überfahrt wohlweise Reden geführt über die Verderblichkeit der Musik, über die Gottlosigkeit der Musikanten und über die Gefahren des Weltlebens für Leib und Seele. Als sie gelandet waren und der Junker mit seiner Gattin durch das zurückweichende Volk auf die Leichen zuging, hielt es Hannes für seine Pflicht, dem Paare das Ehrengeleite zu geben und auf alles Wissenswerte aufmerksam zu machen.
„Ich, wenn ich etwas zu sagen hätte“, erklärte er vor dem aufhorchenden Volk, während Friedrich und Ursula ergriffen vor den Leichen standen, „ich tät ein Gesetz geben: Wer Musik machen will, hat jedem, der sie hören muß, einen Batzen zu zahlen und der Herrschaft auf Martini einen Gulden. Da liegt der Johannes Stapf; der hat nie nichts geglaubt, sonst wäre er nicht in der Johannisnacht auf den Neckar.“
Die Erwähnung ihres Mannes erinnerte die Frau Stapf an ihre Pflicht. Sie warf sich auf ihren Mann und schrie: „Da steh’ ich Witfrau mit meinen fünf Kinderlein, und du gehst fort, du armer Teufel!“
Der Hannes schüttelte mißbilligend den Kopf und meinte: „Unser Herrgott hätte keine Weibsleut schaffen sollen.“ Wie ein Mann, der bekunden will, daß er an dem Vorgange, dem er leiblich anwohnen muß, keinen Anteil nimmt, schaute er in die Krone eines Lindenbaumes hinauf, während der Junker und seine Gattin mit der Witwe redeten; als diese Unterbrechung vorüber war, stellte er sich vor die Toten, und mit einer vorstellenden Handbewegung fuhr er fort: „Dies ist der Brummbaß von Affolterbach. Ist Euch der Jakob Henner in