Das deutsche Herz. Adolf Schmitthenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Adolf Schmitthenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726642926
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um den Gatten und schüttelte das Haupt.

      „Nun denn“, rief Leonhard und faßte mit beiden Händen des Ritters Arm, „so beschwöre ich dich bei deinem Weibe, und dich, den einzigen Hirschhorn, der noch lebendig ist, bei den Hoffnungen, die du hegst für dein Haus: Wo ist meiner Mutter Grab?“

      „Nikolaus“, rief der Junker dem Totengräber zu, „entscheide! Dürfen wir es sagen?“ — „Eid ist Eid“, sagte der alte Mann.

      „Ich war ein Knabe von zwölf Jahren. Sie erklärten mich an jenem Tage für fähig zur Eides- und Schwerthilfe, umgürteten mir die Wehr und gaben mir Wein zu trinken. Dann brachten sie mich in die Schloßkapelle. Du führtest mich, Nikolaus. Und wir beide haben eines Mundes geschworen, die Hand auf dem Evangelium, daß wir den Rest des Tages in Schweigen vergraben. Die Männer meines Hauses waren oft wild, grausam und herzlos. Aber meineidig wird kein Hirschhorn. Laß uns im Frieden scheiden, Leonhard!“

      „Dir reiche ich die Hand nicht“, sagte Leonhard, „aber deinem Weibe.“

      Ursula wandte sich ihm zu und reichte ihm die Rechte. Sie beugten sich zueinander, und die Locken berührten sich.

      „Erlaube“, sagte Leonhard und drückte einen brüderlichen Kuß auf die Wange des Weibes.

      Friedrich wandte sich zu Nikolaus.

      „Diese sechse bekommen ihre Gräber in der Reihe der Männer. Stapf zuvörderst, dann die andern fünfe nach ihrem mutmaßlichen Alter. Dieser aber“, er deutete auf Findebusch und senkte seine Stimme, „dieser wird in der Kirche bestattet, in der Gruft — als ob er mein lieber Schwäher wäre.“

      Der Einsiedler war ohne Gruß entwichen. Der Junker faßte sein Weib an der Hand und führte es langsam zum Gestade.

      Der Totengräber sah ihnen düsteren Blickes nach.

      „Gott schenke dir einen verschlossenen Schoß“, sagte er vor sich hin und streckte seihen Spaten aus.

      5

      Ursula faßte ihren Gatten heftig am Arm.

      „Ich bitte dich, sage mir —“

      „Frage nicht!“ erwiderte er schwermütig. „Wir wollen schweigen, und wir müssen vergessen.“ — —

      Sie schwiegen. Aber vergessen? Konnte er es? Tag und Nacht quälte sich seine Seele. Konnte sie es? Tag und Nacht grübelte sie über die Frage, was denn sie mit all diesen Geheimnissen, die wie ruhelose Seelen umgingen, zu schaffen habe, und bekümmerte sich ob der Herzensqual ihres Geliebten. Aber keines von ihnen rührte mit einem Wort an diese eiserne Tür, an der sich ihre Gemüter wund rieben. Denn sie fürchteten sich vor ihrem unbekannten Tönen. Redlich wollten sie sich einander zum Vergessen helfen, er, indem er in leidenschaftlicher Zärtlichkeit sie suchte — sie, indem sie in ungestümer Hingebung ihm erwiderte. Aber sie förderten einander nur einen kurzen Rausch, der das Erinnern betäubte, aber nicht tötete. Waren sie voneinander gegangen, dann taten beide, als ob sie schliefen, und jedes wußte vom andern, daß es wache und woran es denke.

      Es mochten zwei Monate seit der Hochzeit vergangen sein, da wurde Friedrich in der Nacht durch ein leises Geräusch geweckt. Er richtete sich auf und sah sein Weib im Nachtgewand am geöffneten Fenster stehen. Sie beugte sich hinaus und spähte in die Tiefe. Eine Weile stand sie so. Da löste sich irgendwo ein Steinchen und fiel in das rauschende Laub. Die Frau am Fenster und der Mann im Lager lauschten atemlos. Kein Tritt wurde gehört. Sie beugte sich weiter hinaus. Kein Schatten löste sich von der Wand. Dann rief sie leise: „Mutter! Mutter!“ Keine Antwort kam aus der Tiefe. Darauf schloß sie das Fenster und kehrte zu ihrem Lager zurück. Da faßte er sie an den Händen, zog sie zu sich und sagte: „Ursula, sind wir nicht Toren, daß wir uns einander zu Tod schweigen? Wir wollen davon reden, damit es uns leichter werde.“

      „Gott sei gepriesen für dein Wort“, sagte Ursula.

      Nun schöpften sie beide Atem, und beide — schwiegen.

      „Heute nicht mehr“, sagte endlich der Gatte. „Aber morgen. Wir reiten miteinander nach Zwingenberg. Unterwegs reden wir.“

      Es war ein kräftig schöner Septembertag. Friedrich und Ursula ritten nebeneinander auf der Landstraße zwischen dem Neckar und dem Bergwald.

      „Was bedeutet das Kreuz dort in der Wiese?“ fragte Ursula.

      „Dort hat einer meiner Vorfahren einen Ritter von Vellberg erschlagen.“

      „Wie ging das zu?“

      „Sie ritten miteinander von einem Turnier, das in Würzburg gehalten worden war. Sie waren Vettern und Freunde und ritten im Frieden weg.

      Aber es ritt nur einer in unsre Burg. Er trat ohne Gruß in den Saal, warf sein blutiges Schwert auf den Boden, setzte sich an den Tisch und sah mit verstörten Augen im Zimmer herum. — Oh, ich kenne das!“ fügte er schmerzlich hinzu.

      Ursula hielt ihr Roß an. Friedrich tat das gleiche. Sie sah ihren Gatten innig an.

      „Was haben wir uns gestern nacht zugesagt, als ich in deinen Armen lag? Oh, so rede doch, Geliebter!“

      „Wovon? Von dem erschlagenen Vellberg? Ich weiß nichts von ihm.“

      Friedrich trieb sein Pferd an und trabte voraus. Ursula ritt im Schritte hintendrein. Nach kurzer Weile wartete der Junker, und die Gatten ritten wieder nebeneinander.

      „Von Johann, dem Handschuhsheimer, rede!“ sagte Ursula.

      Friedrich senkte den Kopf.

      „An den Toten kann ich ohne Unruhe denken“, antwortete er. „Ich tue es oft, und ich bin dabei fromm und getrost. Aber wenn ich an die Lebendige denke —“

      „Du meinst seine Mutter, die Beußerin von Ingelheim?“

      Friedrich nickte.

      “— dann kommt über mich eine unsagbare Angst. Wenn ich ein Weib sehe, das so macht“ — er hob die flachen Hände in die Höhe — , „dann werde ich verzagt wie ein Kind. Der Tote quält mich nicht. Gott hat mir vergeben. Aber wenn ich von ihm rede, steht mir die Beußerin vor der Seele. Laß mich schweigen.“

      Ursula seufzte tief auf. Aber sie faßte ihre Seele und sprach:

      „Nun gut, so will denn ich reden. Von meinen Kindertagen will ich dir erzählen. Wären die Kürnbacher Eltern da, so müßte ich sagen: Ich will dir erzählen, was mir dereinst einmal, als ich auf dem Schlosse zu Kürnbach zwischen Vater und Mutter in meinem Kinderbettlein schlief, Wunderliches geträumt hat. Ist es dir recht?“

      Friedrich ritt dicht an sie heran, schlang den Arm um ihren Nacken, drückte ihr einen durstigen Kuß in das süße Gesicht und sprach: „Ich bitte dich darum!“

      „Laß!“ wehrte Ursula. „Was sollen unsre Gäule denken? Und dort der Mahder über dem Neckar sieht uns und lacht uns aus.“

      „Aber in Zwingenberg?“

      „Was ist in Zwingenberg?“

      „Küsse ich mich satt. Ach! Unsinn! Das gibt es ja nicht. Halber satt ist ganz durstig.“

      „Soll ich dir erzählen oder nicht?“

      „Ach ja, bitte.“

      „Also hat mir’s geträumt. Ich war ein kleines Mädchen und hatte gelbe Lederstiefelchen an. Denn ich sprang über die Steine und durch die Hecken hinter meinem Bruder her. Der war gut einen Kopf größer als ich und hieß Leonhard. Ich faßte ihn, wenn er sich von mir fangen ließ, mit beiden Händen in seinen blonden Locken und ließ mich von ihm den Rain hinaufschleppen. Auf einmal kam unsre Mutter in den Garten, aber nicht meine Kürnbacher Mutter, eine andre, die war viel jünger und, wie mich dünkt, viel schöner. Sie kam in großer Eile und Angst und rief uns zu sich. ‚Wir müssen alsobald fortreiten‘, sagte sie, ‚zum Oheim nach Kürnbach.‘ — ‚Dürfen wir mit?‘ rief ich. ‚Freilich‘, sagte sie. ‚Kommet rasch und trinket Milch!‘ —