Jesus von Nazaret. Jens Schröter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Schröter
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374050451
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vorausgesetzten Annahmen über historische Plausibilitäten. So hält etwa Ed Parish Sanders die jüdische »Restaurationseschatologie« (»restoration eschatology«) für denjenigen Kontext, innerhalb dessen die Wirksamkeit Jesu interpretiert werden müsse. Dabei hält er die Erzählung von der Tempelaustreibung für den sichersten Ausgangspunkt einer Untersuchung des Wirken Jesu und beginnt seine Darstellung mit deren Analyse.24

      Für Richard A. Horsley sind dagegen die sozialen Verhältnisse im Palästina des 1. Jahrhunderts der maßgebliche Kontext, um das Wirken Jesu zu interpretieren. Anders als bei Sanders wird die Wirksamkeit Jesu deshalb wesentlich stärker im Blick auf ihre politischen und sozialen Implikationen hin befragt. Jesus wollte die Gottesherrschaft als neue Ordnung, die sich gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit richtet, bereits gegenwärtig erfahrbar machen und nicht, wie Sanders meint, auf die zukünftige, von Gott selbst heraufgeführte Ordnung verweisen.25

      Lassen sich für verschiedene Einordnungen Jesu in sein historisches Umfeld Argumente anführen, so bedeutet das nicht, dass die Darstellungen dadurch beliebig würden. Es zeigt jedoch, dass sich die historisch-kritische Jesusforschung in einem gewissen »Unschärfebereich« bewegt, da sie es als historisches Unternehmen mit Quellen zu tun hat, die kein eindeutiges Bild der Vergangenheit vermitteln. Ihr Ziel kann deshalb nicht das Erreichen des einen Jesus hinter den Texten sein, sondern ein auf Abwägen von Plausibilitäten gegründeter Entwurf, der sich als Abstraktion von den Quellen stets vor diesen bewegt.

      Für diesen geschichtshermeneutischen Zugang wurde der Begriff der »Erinnerung« in die Jesusforschung eingeführt.26 Damit ist nicht die individuelle Aufbewahrung von Inhalten des Wirkens und der Lehre Jesu im Gedächtnis seiner Nachfolger gemeint,27 sondern die Aneignung der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart. Dieser Zugang knüpft an ein Verständnis des Erinnerungsbegriffs an, das Jan Assmann im Anschluss an Maurice Halbwachs entwickelt hat.28 Assmann geht – wie auch Halbwachs – von der sozialen, kollektiven Dimension des Gedächtnisses aus, in dem diejenigen Traditionen aufbewahrt werden, die für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft grundlegend sind. Zu dieser Form des Gedächtnisses gehört deshalb immer auch die Aktualisierung und Inszenierung von Traditionen im Leben von Gemeinschaften – etwa durch Erzählungen, Rituale, Gedenktage und dergleichen. Für das Judentum ist in diesem Sinn etwa die Exoduserzählung eine Tradition, die im Gedächtnis des jüdischen Volkes aufbewahrt, gelesen und bei der Passahfeier rituell inszeniert wird. In der Christentumsgeschichte lässt sich dem die Feier des Abendmahls vergleichen, die an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Jerusalem anknüpft und Jesus in der mahlfeiernden Gemeinde vergegenwärtigt. »Erinnerung« bezeichnet diesem Verständnis zufolge den Rückgriff auf für bedeutsam gehaltene Vergangenheit, die in Erzählungen, Ritualen, Festen und anderen Formen angeeignet und vergegenwärtigt wird.

      Die kritische Prüfung des historischen Materials wird damit in keiner Weise überflüssig. Die Aneignung der Vergangenheit wird sich vielmehr auf solche Zeugnisse stützen, die kritischer Analyse als verlässlich erscheinen. Ein am Erinnerungsbegriff orientierter Zugang zur Vergangenheit – und damit auch zur Jesusüberlieferung – ist sich aber dessen bewusst, dass die Zeugnisse der Vergangenheit die für die Gegenwart bedeutsame Geschichte nicht unmittelbar enthalten. Diese muss vielmehr erst durch eine auf kritischer Analyse und kreativer Einbildungskraft basierende Erzählung aus ihnen geschaffen werden. Die Aneignung der Vergangenheit ist demzufolge ein Prozess, bei dem die historischen Quellen aus der Perspektive der Gegenwart gedeutet und zu einem Bild zusammengefügt werden, das dem jeweiligen Erkenntnisstand und den Voraussetzungen, mit denen wir die Quellen interpretieren, entspricht. Die historische Erzählung gründet dabei auf den Zeugnissen der Vergangenheit und wird sich durch sie korrigieren lassen. Sie ist zugleich ein Produkt historischer Einbildungskraft, die aus den Zeugnissen der Vergangenheit lebendige, bedeutsame Geschichte erschafft.29

      Für die Frage nach dem historischen Jesus ist diese geschichtshermeneutische Perspektive von großer Bedeutung. Die aktuelle Jesusforschung steht der Auffassung, nicht der »historische Jesus«, sondern nur der »geglaubte Christus« sei für den christlichen Glauben von Bedeutung, skeptisch gegenüber. Sie fasst die Jesusforschung stattdessen primär als geschichtswissenschaftliche Unternehmung auf, die auf der Grundlage kritischer Analyse des historischen Materials ein Bild Jesu in seinem historischen Kontext zeichnet. Die Jesusforschung der Gegenwart ist zugleich dadurch charakterisiert, dass sie die zur Verfügung stehenden Quellen in umfassender Weise für die Beschreibung des historischen Kontextes Jesu heranzieht. Dies macht eine geschichtshermeneutische Reflexion notwendig, die zu Bewusstsein bringt, dass der »historische Jesus« nicht der »wirkliche Jesus« hinter den Quellen ist, sondern ein Produkt, das auf historisch-kritischer Quellenanalyse und historischer Einbildungskraft beruht. Jesusbilder – auch historisch-kritische – sind deshalb vielfältig, selektiv und revidierbar. Gerade darin haben sie ihre Bedeutung für die Rezeption Jesu in der jeweiligen Gegenwart.

      Fassen wir diesen Überblick zusammen, so zeigt sich: Die Jesusforschung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat wichtige methodische und inhaltliche Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit Jesus unter den Bedingungen des neuzeitlichen historisch-kritischen Bewusstseins geschaffen. Sie bewegt sich dabei in der Spannung von historischer Rekonstruktion, die wissen will, wie es »wirklich« war, und nachösterlicher Konstruktion, die dies für unerreichbar hält und sich stattdessen an den nachösterlichen Glaubenszeugnissen orientiert. Bei beiden Optionen handelt es sich um Radikallösungen, die für sich genommen unzureichend sind. Gemeinsam verleihen sie der neuzeitlichen Jesusforschung jedoch eine Dynamik, die sich als äußerst fruchtbar erweist: Die Beschäftigung mit den Quellen stellt ein Bild der Vergangenheit vor Augen, das als Produkt der Gegenwart jedoch immer veränderlich, fehlbar und unvollständig bleibt. Historische Jesusforschung kann deshalb den christlichen Glauben niemals begründen oder gar seine Richtigkeit beweisen. Sie kann jedoch zeigen, dass dieser Glaube auf dem Wirken und Geschick einer Person gründet, das sich, wenn auch nicht in jedem Detail, so jedoch in wichtigen Facetten auch heute noch nachzeichnen lässt. Damit leistet sie für die Verantwortung des christlichen Glaubens in der modernen Welt einen substantiellen Beitrag.

      3. DAS HISTORISCHE MATERIAL: ÜBERRESTE UND QUELLEN

       3.1 Überreste

      Johann Gustav Droysen, der Begründer neuzeitlicher Methodik historischen Arbeitens, unterteilte das Material, das dem Historiker zur Verfügung steht, in »Überreste« und »Quellen«. Damit ist gemeint: Es gibt einerseits Zeugnisse der Vergangenheit, die für den Gebrauch in der damaligen Zeit bestimmt waren, nicht jedoch dazu, Ereignisse festzuhalten, um sie der Nachwelt zu überliefern. Hierzu rechnete Droysen z. B. Geschäftsbriefe, Korrespondenzen, Gesetze usw. In den Quellen dagegen »sind die Vergangenheiten, wie menschliches Verständnis sie aufgefasst und ausgesprochen, als Erinnerung geformt hat, überliefert.« Hierbei handelt es sich also um solche Zeugnisse, in denen sich Menschen ein Bild ihrer eigenen Zeit gemacht, ihre Wirklichkeit interpretiert und festgehalten haben.30

      Wenden wir diese Unterscheidung auf die historische Jesusforschung an, so gehören diejenigen Dinge zu den »Überresten«, die Informationen über den kulturellen, politischen, sozialen und religiösen Kontext Jesu liefern. Hierzu zu rechnen sind z. B. die archäologischen Zeugnisse aus Galiläa, die die Ausgrabungen der zurückliegenden Jahrzehnte zutage gefördert haben. Die jüdische Prägung Galiläas wurde durch diese Zeugnisse eindrucksvoll herausgestellt.31 Hierzu gehören weiter Münzen, die Aufschluss darüber geben, dass Herodes Antipas, der Herrscher in Galiläa zur Zeit Jesu, die jüdische Prägung dieser Region respektierte, indem er keine Münzen mit seinem eigenen Bild oder mit demjenigen des römischen Kaisers prägen ließ. Einige der wichtigen Funde werden im Folgenden kurz vorgestellt.

      1) Die Pilatusinschrift von Cäsarea Maritima (Anhang, Abbildung 2).32 Sie ist im Israel-Museum in Jerusalem ausgestellt. Eine Kopie steht im antiken Cäsarea, wo die Inschrift gefunden wurde. Der Text lautet:

      [NAUTI]S TIBERIEUM

      [PO]NTIUS PILATUS

      [PRAEF]ECTUS IUDAE[A]E

      [REF]E[CIT]

      [Den