Jesus von Nazaret. Jens Schröter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Schröter
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374050451
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von den Q-Stoffen, die zum Bereich der synoptischen Überlieferung gehören und sich auf dem Weg zu einer narrativen Darstellung des Wirkens und Geschicks Jesu befinden, gänzlich verschieden.

      Auch wenn also über Umfang, literarisches Profil und oftmals auch über den genauen Wortlaut der zu Q gerechneten Überlieferungen keine zuverlässigen Aussagen getroffen werden können, gehören diese Stoffe zu den wichtigsten Zeugnissen der ältesten Jesusüberlieferung. Es handelt sich um Texte, zu denen Mt und Lk offenbar unabhängig voneinander Zugang hatten, zu denen auch Parallelen bei Mk gehören und die das Bild der ältesten Jesusüberlieferung in wesentlicher Weise profilieren.

      Insbesondere bei denjenigen Texten, die sowohl bei Mk als auch in Q überliefert sind, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um sehr frühe Überlieferungen.47 Hierzu gehören z. B. die Ankündigung Jesu durch Johannes, die Beelzebulkontroverse, die Aussendungsrede, das Senfkorngleichnis und die Aufforderung zur Kreuzesnachfolge. Prinzipiell können natürlich auch solche Texte sehr alt sein, die nur in einem Evangelium oder in einem außerkanonischen Text wie dem Ev Thom überliefert sind. Die bei Mk und Q begegnenden Überlieferungen, die nach der hier skizzierten und heute zumeist vorausgesetzten Lösung der synoptischen Frage an den Anfängen der Verschriftlichung der Jesusüberlieferung bereits vorgelegen haben, bilden jedoch insofern eine erste Orientierung, als sich ein Bild des historischen Jesus kaum gegen diesen frühen Bestand entwerfen lässt.

      Im JohEv begegnet ein von den synoptischen Evangelien deutlich abweichendes Jesusbild. Der Weg Jesu beginnt hier unmittelbar bei Gott, von woher er dann in die Welt kommt, um Gott zu offenbaren. Aufgrund dieser göttlichen Herkunft, die im JohEv durchgehend präsent ist, kann die Welt Jesus auch nur scheinbar etwas anhaben.48 Selbst in der Passionsgeschichte bleibt Jesus souverän. Das JohEv ist also in besonderer Weise daran interessiert, die Göttlichkeit Jesu zu betonen – vermutlich weil diese strittig war. Trotz dieses starken Hervortretens der theologischen Deutung des Wesens Jesu hat auch Johannes Überlieferungen bewahrt, die für die historische Untersuchung von Interesse sind. Hierzu gehören vor allem eigene Verarbeitungen der Worte Jesu,49 Details von Orten und Ereignissen der Passionsgeschichte. Auch dass Johannes als einziger von einer Tauftätigkeit Jesu und mehreren Aufenthalten in Jerusalem berichtet, verdient Beachtung.

      Für eine historische Darstellung zu berücksichtigende Jesusüberlieferungen finden sich auch außerhalb des Neuen Testaments. Zu nennen sind zunächst einige der zu den sog. »Apostolischen Vätern« gerechneten Texte. Hierbei handelt es sich um Schriften, die zwischen dem Ende des 1. und des 2. Jahrhunderts entstanden sind und bei der endgültigen Festlegung des Kanons des Neuen Testaments nicht in diesen aufgenommen wurden.50 Obwohl diese Texte zumeist später entstanden sind als die Evangelien des Neuen Testaments, können sie alte, unabhängige Überlieferungen bewahrt haben. Das lässt sich in einigen Fällen auch wahrscheinlich machen, wenngleich sich das historische Profil des Wirkens und Geschicks Jesu dadurch nicht grundlegend verändert.

      So finden sich im 1. und 2. Klemensbrief Worte, die auf Jesus zurückgeführt werden und zum Teil Parallelen in den Evangelien des Neuen Testaments besitzen. In 1Klem 13,2 wird eine Reihe von »Worten des Herrn Jesus« angeführt, die die »Milde und Langmut« belegen, die er gelehrt habe. Diese Worte berühren sich mit der Bergpredigt, ohne dass sich eine direkte literarische Abhängigkeit nachweisen ließe. Ähnlich wird in 1Klem 46,7 auf »Worte unseres Herrn Jesus« verwiesen, die im Folgenden zitiert werden. Hier geht es um das Wort vom Mühlstein, das sich auch in Mk 9,42/Mt 18,6 findet und in 1Klem 46,8 in einer eigenen Version angeführt wird. In 2Klem wird des Öfteren darauf verwiesen, dass »der Herr« oder auch Jesus etwas gesagt habe. In 2Klem 8,5 heißt es sogar »Der Herr sagt im Evangelium …«. Ob dem Verfasser dabei eine Schrift mit Jesusüberlieferungen zur Verfügung gestanden hat, ist nicht mehr eindeutig festzustellen. Die Didache, eine Kirchenordnung vom Ende des 1. Jahrhunderts, führt etliche Überlieferungen – darunter z. B. auch eine Version des Vaterunsers – an, die ebenfalls Parallelen in den synoptischen Evangelien, vor allem im MtEv, besitzen. Sie werden hier allerdings nur zum Teil auf Jesus zurückgeführt, wobei die Didache in 8,2 die Formulierung »wie es der Herr angeordnet hat im Evangelium« verwendet. Laut ihrem Titel steht die Didache dagegen unter der Autorität der (zwölf) Apostel. Insgesamt verweist dieser Befund darauf, dass die Jesusüberlieferung auch nach ihren ersten Verschriftlichungen weiter als eine freie und lebendige Überlieferung existierte.

      Zu nennen sind des Weiteren diejenigen Texte, die zu den sog. »Apokryphen«, wörtlich: den »verborgenen Schriften« gerechnet werden.51 Diese Bezeichnung konnte von den Verfassern dieser Schriften selbst in Anspruch genommen werden. Mit dem »Apokryphon des Johannes« ist sogar eine Schrift überliefert, die sich bereits im Titel als »apokryph« bezeichnet, und am Beginn des Thomasevangeliums wird der Inhalt der Schrift als »verborgene [apokryphe] Worte des lebendigen Jesus« charakterisiert. Nach dem Selbstverständnis dieser Schriften ist »apokryph« also eine positive Beschreibung ihres Inhalts: Es werden besondere Lehren Jesu oder spezielle Erkenntnisse vermittelt, die dem »Durchschnittschristentum« nicht zugänglich sind, sondern auserwählten Kreisen vorbehalten bleiben. Von den altkirchlichen Theologen wird »apokryph« dagegen im abwertenden Sinn gebraucht und mit »unecht« bzw. »gefälscht« gleichgesetzt. Heute dient der Begriff dagegen als Sammelbezeichnung für diejenigen Texte, die weder zum Neuen Testament noch zu den »Apostolischen Vätern« gehören. Daraus ergibt sich zugleich eine gewisse Unschärfe: Zu den apokryphen Überlieferungen werden heute z. B. auch solche Texte gerechnet, die in den ältesten Manuskripten der Evangelien nicht bezeugt sind, sondern erst später in diese eingefügt wurden.52 Dazu gehören aber auch später entstandene Schriften ganz unterschiedlichen Charakters, die oft nur fragmentarisch erhalten sind und in vielen Fällen in keiner inhaltlichen oder literarischen Beziehung zueinander stehen. »Apokryphen« ist deshalb im heutigen Verständnis eine Sammelbezeichnung für verschiedenartige Texte, die nur gemeinsam haben, dass sie nicht zum ältesten Textbestand des Neuen Testaments gehören und auch nicht zu den sog. »Apostolischen Vätern« gerechnet werden.53 Diese Texte haben deshalb auch niemals eine eigene Sammlung in Analogie zum Neuen Testament gebildet.

      Etliche der apokryphen Texte sind erst seit gut 150 Jahren bekannt. Es handelt sich dabei z. T. um Fragmente mit einzelnen Worten oder Episoden,54 z. T. um größere Teile von Evangelien oder Schriften anderen Charakters, die Jesusüberlieferungen enthalten. Interessante Beispiele für Fragmente sind der Papyrus Egerton und der Oxyrhynchos-Papyrus 840, wichtige apokryphe Evangelien aus dem 2. bzw. 3. Jahrhundert sind das Thomasevangelium, das Petrusevangelium sowie das Mariaevangelium. Andere Texte sind dagegen schon immer bekannt gewesen, weil sie in der Kirche, obwohl nicht »offiziell« akzeptiert, dennoch gerne gelesen wurden. Hierbei handelt es sich um volkstümliche Erzählungen, die das Leben Jesu und der Apostel legendarisch ausschmücken, also eine Art »christliche Volksliteratur« darstellen. Dazu gehören etwa die sogenannten »Kindheitsevangelien«, auf die in Teil C. 2 zurückzukommen sein wird, aber auch die apokryphen Apostelakten, die das Leben der Apostel romanhaft ausschmücken.

      Um das Verhältnis einiger der apokryphen Texte zu den Evangelien des Neuen Testaments wird seit einiger Zeit eine intensive Diskussion geführt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, ob die Apokryphen zusätzliche Informationen über Jesus enthalten, die das aus dem Neuen Testament gewonnene Bild ergänzen oder gar verändern würden. Mitunter verbindet sich damit das Interesse, das Christentum der ersten beiden Jahrhunderte als eine noch nicht von kirchlicher Orthodoxie und Hierarchie geprägte Bewegung darzustellen, für die auch der später festgelegte Kanon des Neuen Testaments noch nicht maßgeblich gewesen sei.55

      Grundsätzlich gilt hierbei: Für die Frage nach dem historischen Jesus spielt die Frage, ob ein Text zum »Neuen Testament«, zu den »Apostolischen Vätern« oder zu den »Apokryphen« gerechnet wird, keine Rolle. Es handelt sich dabei vielmehr um spätere Einteilungen und Wertungen, die keine Auskunft über den historischen Quellenwert einzelner Schriften geben. Auch in den sogenannten »apokryphen« Evangelien können sich demnach alte Überlieferungen finden.

      Die Thesen der Frühdatierung und Unabhängigkeit der