Jesus von Nazaret. Jens Schröter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Schröter
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374050451
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Testament oder dem Judentum stammen (wie etwa die Erwartung des kommenden Messias) und die nunmehr auf Jesus übertragen wurden, um die Bedeutung seiner Person zum Ausdruck zu bringen. Strauß verwendete hierfür den Begriff »Mythos« und verstand darunter die »geschichtsartige Einkleidung« von Ideen, die in der Person Jesu als verwirklicht angesehen wurden und deren höchste die Idee der Gottmenschheit sei. War bei Reimarus zum ersten Mal das Verhältnis von Wirken Jesu und Entstehung des christlichen Glaubens thematisiert worden, so werden bei Strauß die Evangelien selbst auf ihre historische Grundlage hin befragt. Die dabei eingeführte Differenzierung zwischen historischer Wirklichkeit und deutender Darstellung ist seither aus der Jesusforschung nicht mehr wegzudenken.

      Die von Strauß aufgeworfene Frage, ob die historischen Ereignisse des Wirkens Jesu zur Wahrheit des Christentums dazugehören oder aber zugunsten der »Ideen«, mit denen sie gedeutet wurden, letztlich verzichtbar seien, wird von Martin Kähler (1835–1912) in einem berühmt gewordenen Vortrag von 1892 mit dem bezeichnenden Titel »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« dahingehend beantwortet, dass der Versuch, hinter den biblisch bezeugten Christus auf den historischen Jesus zurückgehen zu wollen, ein Holzweg sei. Die neutestamentlichen Darstellungen seien Verkündigung, deren Wahrheit nicht mit den Mitteln historischer Kritik erhoben werden könne. Es gelte vielmehr, den wirklichen in dem gepredigten Christus zu erkennen. Eine Unterscheidung von historischen Ereignissen und ihrer Deutung durch den christlichen Glauben, der ihnen erst nachträglich eine Bedeutung verleihe, lehnte Kähler dagegen vehement ab.

      Die Linie von Strauß zu Kähler lässt sich über Rudolf Bultmann und Paul Tillich bis zu dem nordamerikanischen Exegeten Luke Timothy Johnson verlängern.16 Das Kennzeichen dieser Position ist es, eine Rekonstruktion des historischen Jesus jenseits der christlichen Glaubenszeugnisse – und damit das Projekt eines »historischen Jesus« – angesichts der Quellen für nicht realisierbar und theologisch für unsachgemäß zu halten. Die Deutungen seines Wirkens und Geschicks aus der Sicht des christlichen Glaubens seien genau diejenige Form, in der Jesus geschichtlich wirksam geworden sei, deshalb sei es methodisch wie sachlich unangemessen, unabhängig hiervon nach einem »historischen Jesus« suchen zu wollen.

      Diese Position hat in der deutschsprachigen Jesusforschung eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Ihr prinzipielles Recht liegt in dem Insistieren darauf, dass historische Forschung nicht hinter die christlichen Glaubensüberzeugungen zu dem »wirklichen« Jesus vordringt. Dass die nachösterlichen Glaubensüberzeugungen die Darstellungen des vorösterlichen Wirkens Jesu maßgeblich geprägt haben, steht außer Frage. Gleichwohl wäre es voreilig, die historische Jesusfrage damit grundsätzlich zu verabschieden. Zwischen historischen Ereignissen und deren Deutung kann in den Evangelien durchaus unterschieden werden, Konturen der historischen Person Jesu lassen sich in den Entwürfen der Evangelien erkennen. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einem historisch-kritisch erstellten Bild Jesu17 ist deshalb überzogen.18 Zu einem solchen Bild gehört wesentlich mehr als das, was Bultmann als historisch gesichert über das Wirken Jesu sagen zu können meinte.19

      An dieser Stelle wird eine Tendenz erkennbar, die die Jesusforschung im Gefolge Bultmanns maßgeblich geprägt hat. Die Jesusdarstellungen dieser Phase, der sog. »neuen Frage nach dem historischen Jesus«, waren in der Regel auf seine »Verkündigung« konzentriert. Das »Eigentliche« seines Wirkens wurde also vornehmlich in seinen Worten und Gleichnissen gesehen, der historische und soziale Kontext dagegen eher beiläufig als »Rahmen« abgehandelt.20 Vorausgesetzt ist dabei die durchaus zutreffende Einsicht, dass den Evangelien Überlieferungen vorausliegen, die sie selbst in einen chronologischen und geographischen Rahmen gestellt haben. Dieser »Rahmen« ist allerdings keineswegs belanglos. Er vermittelt vielmehr wichtige Kenntnisse über die Zeit und die Regionen des Wirkens Jesu und bettet sein Wirken in konkrete soziale, kulturelle und religiöse Zusammenhänge ein. Er ist deshalb für eine Interpretation seines Auftretens unverzichtbar. Dagegen wäre es nicht einleuchtend, die Bedeutung Jesu auf seine »Verkündigung« zu reduzieren, diese ihren konkreten Zusammenhängen zu entheben und die konkreten Kontexte, die sein Wirken historisch erst verstehen lassen, an den Rand zu stellen.

      Die mit den Namen von Strauß, Kähler, Bultmann und Johnson verbundene Linie der Jesusforschung formuliert also ein wichtiges Korrektiv gegen eine naive Gleichsetzung von historischer Forschung und vergangener Wirklichkeit: Die Bedeutung des Wirkens und Geschicks Jesu lässt sich nicht unabhängig von den Deutungen in den frühen Quellen erfassen. Historische Darstellungen müssen vielmehr verständlich machen, wie Deutung und historisches Ereignis aufeinander zu beziehen sind. Andererseits spricht die Einsicht in den »mythischen« oder »kerygmatischen« Charakter der Evangelien nicht gegen ihren Wert als historische Quellen. Der historische Kontext des Wirkens Jesu bleibt vielmehr durchaus erkennbar und erlaubt es, Konturen seines Auftretens nachzuzeichnen.

      Ein dritter Aspekt der historischen Jesusforschung verbindet sich mit dem Namen von Albert Schweitzer (1875–1965). Schweitzer hatte die Abhängigkeit historischer Darstellungen von den Urteilen und Wertmaßstäben ihrer Verfasser innerhalb der Jesusforschung deutlich erkannt. In seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« kritisierte er die Jesusdarstellungen der Forschung des 19. Jahrhunderts dafür, dass sie die Fremdheit Jesu nicht ernst genommen und ihn um den Preis der Bewahrung seiner Besonderheit in ihre eigene Zeit hineingeholt hätten, aus der er allerdings wieder in seine eigene Zeit zurückgekehrt sei.

      Hatte Schweitzer damit zu Recht auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die in einer unreflektierten Aneignung der Vergangenheit liegt, so besitzt auch sein eigener Entwurf eine methodische Schwäche: Schweitzer wollte an die Stelle der geschichtlichen Erkenntnis, die der Vorläufigkeit unterworfen sei, das von wandelbaren historischen Urteilen unabhängige Fundament des christlichen Glaubens setzen.21 Dieses meinte er in der »Persönlichkeit« und dem »Willen« Jesu zu finden, die von dem Vorstellungsmaterial, in das sie gekleidet wurden, unabhängig seien.22 Damit steht Schweitzer in der Tradition eines Geschichtsbildes, das durch die Orientierung an großen Persönlichkeiten gekennzeichnet ist und sich auch schon vor ihm in der Jesusforschung bemerkbar gemacht hatte.23 Zugleich bereitete Schweitzer mit der Betonung des angeblich zeitlosen »Willens Jesu« eine Richtung vor, an die dann vor allem in der oben angesprochenen, auf die »Verkündigung« Jesu konzentrierten Richtung angeknüpft wurde.

      Schweitzer geht es also, ähnlich wie Kähler und Bultmann, um ein sicheres Fundament, auf das sich der Zugang zu Jesus gründen kann. Gesucht wird dieses Fundament von allen drei Forschern jenseits wandelbarer historischer Urteile. Diese Vorstellung ist jedoch eine Illusion. Es kann bei der Beschäftigung mit Jesus nicht darum gehen, das »zeitlos Gültige« vom wandelbaren »Material«, in das es gekleidet wurde, absondern zu wollen. Das lässt sich unschwer an Schweitzer selbst zeigen: Seine Konzentration auf die vermeintlich zeitlose »Persönlichkeit« Jesu und seinen »Willen« sind dem Persönlichkeitsideal des 19. Jahrhunderts und einer bestimmten Sicht auf die »spätjüdische« Apokalyptik verpflichtet – und damit durchaus zeitbedingt, wenn auch auf andere Weise als die von ihm kritisierten Darstellungen. Christlicher Glaube kann nicht auf ein »unerschütterliches Fundament« oder eine »ewige Vernunftwahrheit« im Sinne Lessings gegründet werden. Er ist vielmehr stets von den geschichtlichen Entwicklungen und den damit verbundenen Veränderungen der Sicht auf die Vergangenheit betroffen; er ist der ständigen Prüfung an den Quellen unterworfen und kritischen Fragen nach der Plausibilität seiner Wirklichkeitsdeutung ausgesetzt. Genau darauf gründet die Stärke eines Glaubens, der sich solch kritischer Prüfung nicht verweigert. Nur ein intellektuell und ethisch verantworteter Glaube ist davor gefeit, sich in einen Sonderbereich zurückzuziehen und zur Ideologie zu werden. Nur ein solcher Glaube kann deshalb im offenen Diskurs über die Deutung der Wirklichkeit bestehen.

      Schließlich ist ein Weiteres zu bedenken: Dass die Evangelien vor- und nachösterliche Überlieferungen miteinander verschmelzen, verleiht dem Unterfangen der kritischen Jesusforschung von vornherein eine Ambivalenz: Die Frage, welche Überlieferungen als authentisch, welche als spätere Deutungen, welche Facetten für ein Bild von Jesus als besonders markant und charakteristisch, welche als eher belanglos beurteilt werden, hängt immer auch von dem vorausgesetzten Gesamtbild vom Wirken Jesu und seinem historischen Kontext ab.

      Die Vielfalt der Jesusbilder in der neueren Forschung liefert dafür einen eindrücklichen Beleg.