Jesus von Nazaret. Jens Schröter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Schröter
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374050451
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      Der Papyrus Egerton 2 (PEg)56 überliefert auf den beiden identifizierbaren Fragmenten verschiedene Episoden, die Varianten von Erzählungen in den neutestamentlichen Evangelien darstellen (Anhang, Abbildung 5). Nachdem anfänglich (die Erstveröffentlichung erfolgte 1935) die Unabhängigkeit von den neutestamentlichen Evangelien vermutet wurde, hat vor allem die Ergänzung des Papyrus durch ein 1987 veröffentlichtes Fragment aus der Kölner Papyrussammlung (PKöln 255) gezeigt, dass PEg Stoffe aus den synoptischen Evangelien mit solchen aus dem Johannesevangelium verknüpft.57 Er gehört also in eine spätere Phase der Jesusüberlieferung als die neutestamentlichen Evangelien, auch wenn er von diesen nicht direkt literarisch abhängig sein muss.

      Das Petrusevangelium58, von dem ein 1886 / 87 entdeckter Teil in griechischer Sprache vorliegt, dem später zwei weitere Fragmente zugeordnet werden konnten, enthält eine Fassung der Passions- und Ostererzählung. Etliche Merkmale deuten darauf hin, dass es sich auch hier um eine Version handelt, die in ein späteres überlieferungsgeschichtliches Stadium gehört als die entsprechenden Berichte der Synoptiker und des Johannesevangeliums. Dazu gehören vor allem die einseitige Zuschreibung der Schuld am Tod Jesu an die Juden sowie die Ausmalung der Auferstehungsszenerie durch den von selbst ins Rollen geratenden Stein, das Motiv des Jesus folgenden und sprechenden Kreuzes sowie eine Himmelsstimme.

      Das Mariaevangelium,59 von dem ein längeres Stück in koptischer Sprache auf einem zur Berliner Papyrussammlung gehörigen Codex, dem sog. »Berolinensis Gnosticus« (BG 8502), sowie zwei griechische Fragmente aus dem 3. Jahrhundert60 existieren, überliefert auf den erhaltenen Seiten (die Seiten 1–6 und 11–14 der ursprünglich 18 Seiten fehlen) einen Dialog des »Erlösers« mit seinen Jüngern vor seinem Weggang sowie im Anschluss daran einen Dialog Marias mit den Jüngern. Dabei berichtet Maria von speziellen Offenbarungen, welche ihr in einer Vision zuteil wurden, die offenbar auch eine Himmelsreise einschloss. Am Ende steht ein Streit über die Autorität der Maria, die von Petrus und Andreas in Zweifel gezogen, von Levi dagegen verteidigt wird. Dabei setzt EvMar die Erzählungen von der Erscheinung des Auferstandenen im MtEv, vermutlich auch im JohEv, voraus und entwirft auf dieser Grundlage eine nachösterliche Situation der Begegnung Jesu mit Maria und den Jüngern.61

      Unter den apokryphen Evangelien hat das Thomasevangelium besondere Beachtung gefunden.62 Die Entdeckung dieser Schrift, die sich als zweite Schrift in Codex II der dreizehn 1945 in Nag Hammadi in Oberägypten gefundenen Codices findet, war seinerzeit eine regelrechte Sensation. Zum ersten Mal war man nunmehr im Besitz des (nahezu) vollständigen Textes eines apokryphen Evangeliums – zumindest in einer koptischen Übersetzung –, von dessen Existenz man, wie auch beim Petrus- und beim Judasevangelium, bereits zuvor durch Erwähnungen bei altkirchlichen Theologen wusste. Die Forschung hat sich in den ersten Jahrzehnten nach dieser Entdeckung intensiv mit der Frage nach dem Verhältnis des Ev Thom zu den kanonischen, vor allem den synoptischen Evangelien beschäftigt. Das legte sich schon deshalb nahe, weil ungefähr die Hälfte der im Ev Thom begegnenden Sprüche und Gleichnisse Jesu Parallelen in den synoptischen Evangelien besitzt. Inzwischen ist diese, zum Teil hitzig geführte Debatte einer besonnenen Analyse des Ev Thom gewichen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Schrift Zeugnis für eine Rezeptionslinie der Jesusüberlieferung ist, die im 2. Jahrhundert einsetzt. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten Fragmente des Ev Thom in griechischer Sprache.

      Das Ev Thom ist nicht an einer Darstellung des Wirkens und Geschicks Jesu in seinem historischen Kontext interessiert, sondern an seinen Worten und Gleichnissen, die als »verborgene Worte des lebendigen Jesus« charakterisiert werden – »verborgen« deshalb, weil es besonderer Einsicht bedarf, um ihre eigentliche, tiefere Bedeutung zu erkennen. Dazu gehören sowohl sehr alte Überlieferungen, wie z. B. die Seligpreisung der Verfolgten (Spruch 68), die Gleichnisse von Senfkorn und Sauerteig (Spruch 20 bzw. 96) und das Wort über die Heimatlosigkeit des Menschensohnes (Spruch 86), als auch jüngere, wie etwa das Wort über die Herkunft aus dem Königreich, in das man wieder zurückkehren wird (Spruch 49), oder dasjenige über das Eingehen der »Einzelnen« in den Hochzeitssaal (Spruch 75). Die frühen Jesusüberlieferungen werden im Ev-Thom also innerhalb eines neuen Konzeptes interpretiert. Dieses ist an Jesus als dem Offenbarer des wahren Menschseins orientiert, dessen Worte den Weg zurück zum Ursprung und damit zur Bestimmung des Menschen weisen. In diesen Zusammenhang gehören auch das programmatisch am Anfang stehende Wort über das Suchen und Finden (Spruch 2), die Bezeichnung der Welt als einer »Leiche« (Spruch 56; vgl. 80) sowie die hiermit verbundene Aufforderung, sich der Welt zu enthalten (Spruch 27) und stattdessen den Weg zurück zum Vater zu suchen. Mit dieser Vorstellung einer Erlösung durch Erkenntnis weist das Ev Thom eine Nähe zu solchen Schriften auf, die davon sprechen, dass der Mensch wieder werden muss, was er ursprünglich war.

      Für die Frage nach dem historischen Jesus bedeutet das: Es ist durchaus möglich, dass sich im Ev Thom sehr alte Jesusüberlieferungen finden. Das Gesamtkonzept ist jedoch jünger als dasjenige der neutestamentlichen Evangelien. Diese liefern deshalb auch den Rahmen, innerhalb dessen Worte aus dem Ev Thom für den historischen Jesus zu interpretieren sind. Hiervon zu unterscheiden ist eine Interpretation des Ev Thom selbst als Zeugnis für die Rezeption der Jesusüberlieferung im 2. Jahrhundert.

      Die Schriften der Apostolischen Väter sowie die apokryphen Evangelien sind somit Zeugnisse für die Vielfalt der Deutungen, die die Person Jesu im 2. und 3. Jahrhundert erfahren hat. Für eine historische Rekonstruktion sind sie jedoch nur von sekundärer Bedeutung, auch dann, wenn sich in ihnen alte Überlieferungen finden sollten. Entscheidend ist, dass sich die Perspektive auf Jesus verändert hat: Wird er in den Schriften aus dem 1. Jahrhundert als in Galiläa und Jerusalem im Kontext des Judentums wirkend beschrieben, so treten an diese Stelle später religionsphilosophische Systeme und Geheimoffenbarungen, die nunmehr das Verständnis seiner Lehre prägen. Eine Datierung dieser Schriften in das 1. Jahrhundert würde deshalb eine Verzeichnung des historischen Befundes bedeuten, dem zufolge das Wirken Jesu innerhalb des Judentums zu interpretieren ist.

      Aus dem dargestellten Befund folgt, dass die Evangelien des Neuen Testaments – und hier noch einmal besonders die synoptischen Evangelien – sowohl aufgrund ihres Alters wie auch der Tatsache, dass sie das Wirken Jesu in einen bestimmten zeitlichen und geographischen Kontext einordnen, die Grundlage für historisch-kritische Jesusdarstellungen besitzen.63 Auch in den nicht kanonisch gewordenen Schriften können alte Überlieferungen aufbewahrt sein. In historisch-kritischen Darstellungen sind diese jedoch innerhalb des von den ältesten Jesuserzählungen entworfenen geographischen, kulturellen und religiösen Milieus zu interpretieren.

      In allen genannten Quellen ist zwischen frühen, historisch zuverlässigen und späteren, für historische Darstellungen sekundären Überlieferungen zu unterscheiden. Dabei handelt es sich natürlich nicht um im strikten Sinn beweisbare Urteile, sondern um solche, die auf der Plausibilität des Gesamtbildes beruhen und im Einzelfall umstritten bleiben können. Generell gilt jedoch der Maßstab der historischen Plausibilität und Kohärenz der Darstellung, der zur Entscheidung des Einzelfalls in einem dialektischen Verhältnis steht. Es handelt sich bei der historischen Beurteilung der Quellen also um einen immer wieder abzuschreitenden Zirkel von Gesamtbild und Einzelüberlieferung, die aufeinander zu beziehen sind und sich dabei gegenseitig korrigieren – ein Verfahren, das bei historischer Arbeit generell angewendet wird. In der vorliegenden Darstellung wird deshalb die Wirksamkeit Jesu in ihren vorauszusetzenden Kontext eingezeichnet, dem dann – orientiert an der beschriebenen Bewertung der Quellen – die jeweiligen Überlieferungen zugeordnet werden. Auf diese Weise soll ein plausibles und kohärentes Bild von Wirken und Geschick der historischen Person Jesu erstellt werden.

       3.3 Nichtchristliche Quellen

      Die wenigen außerchristlichen Notizen über Jesus sind in jüdische und heidnische Quellen zu unterteilen. Wir besprechen im Folgenden die wichtigsten dieser Zeugnisse.

      1) Der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37 – nach 100 n. Chr.) kommt in einem Passus seines Werkes »Die jüdischen Altertümer« auch auf Jesus zu sprechen. Wie heute anerkannt ist, handelt es sich hierbei um ein christlich überarbeitetes Textstück.64 Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Werke des Josephus nicht von Juden, sondern von Christen überliefert