Jesus von Nazaret. Jens Schröter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens Schröter
Издательство: Bookwire
Серия: Biblische Gestalten (BG)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374050451
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wesentlich genaueren Wahrnehmung des Judentums der Zeit Jesu geführt. Heutige Jesusdarstellungen unterscheiden sich gerade an diesem Punkt von solchen, die vor dem Bekanntwerden dieser Schriften verfasst wurden. Dazu beigetragen hat aber auch, dass die jüdischen Quellen heute mit anderen Augen betrachtet werden. Verantwortlich hierfür ist die Neubesinnung auf das Verhältnis des Christentums zum Judentum, die in der christlichen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ausgelöst nicht zuletzt durch die Shoa – einsetzte. Sie hat die Sensibilität für die Verwurzelung des Christentums im Judentum wesentlich befördert. Niemand bestreitet heute, dass Jesus und Paulus im Kontext des antiken Judentums verstanden werden müssen – als galiläischer Wanderprediger der eine, als zu Jesus Christus bekehrter Diasporajude und Pharisäer der andere. Die Erforschung des antiken Judentums als des historischen Kontextes für das Wirken Jesu und die Entstehung des christlichen Glaubens hat Thesen wie etwa diejenige eines »arischen Jesus« oder paganer Religiosität als Mutterboden des frühen Christentums als auf einer problematischen Entgegensetzung von »Judentum« und »Christentum« erweisen können. Dass Jesus fest in den jüdischen Schriften und Traditionen seiner Zeit verwurzelt war, wird heute von niemandem bestritten. Der historische Kontext Jesu, des Juden aus Galiläa, kann deshalb nicht zuletzt zu einem neuen Blick auf diejenigen Traditionen führen, die Juden und Christen miteinander verbinden.8 Das zeigt: Nicht nur die Quellenlage, auch der Blick auf die Quellen hat sich verändert. Historische Forschung hat immer auch eine Korrektivfunktion im Blick auf das Verständnis der Gegenwart im Horizont der Spuren der Vergangenheit.

      Historische Forschung ist demnach der Vergangenheit wie der Gegenwart gleichermaßen verpflichtet. Sie bewahrt die Spuren des Gewesenen vor dem Vergessen, sie wehrt zugleich einer Instrumentalisierung der Vergangenheit zu ethisch fragwürdigen oder politisch vordergründigen Zwecken.9

      Zwischen einem mittels historischer Forschung entworfenen »historischen Jesus« und dem »irdischen Jesus« ist darum zu unterscheiden: Der »historische Jesus« ist stets ein Produkt der Quellenauswertung durch einen Interpreten oder eine Interpretin. Abhängig davon, wie die Quellen beurteilt und zusammengefügt werden, entstehen dabei verschiedene Bilder. Historische Jesusdarstellungen – gerade auch diejenigen der neueren, auf intensiver Quellenauswertung basierenden Forschung – weisen deshalb z. T. beträchtliche Unterschiede auf. Zu einem eindeutigen Bild von Jesus wird historische Forschung niemals gelangen, denn die Quellen lassen nicht nur eine Deutung zu. Der »irdische Jesus« ist dagegen der Jude, der im 1. Jahrhundert in Galiläa gelebt und gewirkt hat und stets nur vermittelt durch Deutungen zugänglich ist. Spätere Zeiten sind für diese Deutungen auf Zeugnisse verwiesen, die Rückschlüsse auf die Person Jesu und ihren Kontext ermöglichen. Historische Jesusdarstellungen, wie andere historische Darstellungen auch, sind darum immer eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit und leisten so einen Beitrag zum Verstehen der Wirklichkeit. Das Resultat einer heutigen historischen Jesusdarstellung ist darum der erinnerte, vergegenwärtigte Jesus aus einer spezifischen Perspektive vom Anfang des 21. Jahrhunderts.10

      Wie war es »wirklich«? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn Tatsachen und Ereignisse innerhalb eines Zusammenhangs gedeutet werden, der sich erst dem Blick späterer Interpreten erschließt. Die historischen Ereignisse des Wirkens und Geschicks Jesu, um die es im Folgenden geht, müssen aus den Quellen erschlossen, miteinander verknüpft und in einen historischen Kontext eingeordnet werden. Ob ein Zeitgenosse Jesu ihn in dem Bild, das dabei entsteht, wiedererkennen würde, bleibt eine hypothetische Frage, die aber auch nicht über den Wert einer heutigen Jesusdarstellung entscheidet. Wichtiger ist: Ein solches Jesusbild muss unter gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen nachvollziehbar und an den Quellen orientiert sein – auch und gerade dort, wo uns Jesus in diesen Quellen fremd und unbequem erscheint. »Wirklich« meint dann: angesichts der je aktuellen Verstehensvoraussetzungen plausibel, wobei die jeweilige Gegenwart im Licht der Zeugnisse der Vergangenheit als gewordene verstanden wird. Die Frage, wer Jesus war, kann deshalb von derjenigen, wer er heute ist, nicht getrennt werden.

      2. EIN BLICK IN DIE FORSCHUNGSGESCHICHTE

      Eine heutige Jesusdarstellung baut auf der mehr als zweihundertjährigen Arbeit historisch-kritischer Forschung auf. Sie profitiert von den dabei gewonnenen Erkenntnissen über die Quellen sowie über den politischen, religiösen und kulturellen Kontext Jesu.

      Die historisch-kritische Jesusforschung wird zumeist in drei Phasen eingeteilt: die sog. »liberale Leben-Jesu-Forschung«, die das 19. Jahrhundert bestimmte und am Beginn des 20. Jahrhunderts an ihr Ende kam, die sog. »neue Frage nach dem historischen Jesus«, deren Beginn in der Regel in dem wichtigen Vortrag Ernst Käsemanns über »Das Problem des historischen Jesus« von 1953 gesehen wird,11 sowie die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende, sich selbst als »dritte Frage« (»Third Quest«) nach dem historischen Jesus bezeichnende Richtung. Man kann natürlich auch hiervon abweichende Einteilungen vornehmen.12 Im Folgenden soll es jedoch nicht um derartige Einteilungsfragen, sondern um einige grundlegende Merkmale der neuzeitlichen Jesusforschung gehen.13

      Eine wichtige Voraussetzung für die Frage nach dem historischen Jesus ist die oben schon genannte Beurteilung der biblischen Schriften am Maßstab der kritischen Vernunft. Dass die Bibel, in christlicher Antike und christlichem Mittelalter Grundlage des Welt- und Menschenbildes, in der Neuzeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik wurde, ist eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Entwicklung. Sie bildet die Grundlage für das historisch-kritische Bewusstsein, das die Aussagen der Heiligen Schrift nicht mehr automatisch mit der Wahrheit gleichsetzt, sondern zwischen historischer Wirklichkeit und Deutung unterscheidet. Diese heute selbstverständlich erscheinende Unterscheidung war zur Zeit ihrer Entstehung eine regelrechte Revolution.

      Innerhalb der Jesusforschung wird diese Entwicklung zuerst bei dem schon genannten Hermann Samuel Reimarus greifbar. In seiner bereits erwähnten Schrift zur Verteidigung der »vernünftigen Verehrer Gottes« stellt er eine Differenz zwischen der Lehre Jesu und der Entstehung des christlichen Glaubens fest und bezeichnet es als einen »gemeinen Irrthum der Christen«, beides miteinander vermischt zu haben. Die Verkündigung Jesu selbst sei eine im Kontext des Judentums angesiedelte ethische Belehrung, ausgerichtet auf »Aenderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demuth, Sanftmuth, Verläugnung sein selbst, auf Unterdrückung aller bösen Lust«, auf moralische Besserung des Menschen also, jedoch nicht auf ein neues, das Judentum ablösendes Religionssystem. Dieses hätten vielmehr erst die Apostel (Reimarus meint hier die Verfasser der neutestamentlichen Briefe, im Unterschied zu den Evangelisten als Geschichtsschreibern) nach Jesu Tod entwickelt und an die Stelle der einfachen, natürlichen Religion Jesu das System eines leidenden, vom Tode auferstehenden und nach seiner Himmelfahrt zum Gericht wiederkommenden Erlösers gesetzt.

      Trotz etlicher Unzulänglichkeiten, auf die hier nicht näher einzugehen ist, ist die Theorie von Reimarus die erste konsequente Erklärung der Lehre Jesu aus ihrem historischen Kontext heraus. Dass die Frage nach Jesus immer auch eine Aufgabe historischer Forschung ist, wurde dabei durch Reimarus (und Lessing) zu Recht herausgestellt und in der neueren Jesusforschung wieder deutlich hervorgehoben. Die Kenntnisse über die politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse der Zeit Jesu sind dabei heute ungleich präziser als zu Zeiten von Reimarus. Diese Kenntnisse bilden einen wichtigen Bestandteil gegenwärtiger Jesusdarstellungen. Um das Auftreten Jesu zu beschreiben, muss danach gefragt werden, mit welchen Menschen er in Kontakt kam, müssen die sozialen und politischen Verhältnisse der Gegend, in der er wirkte, in den Blick genommen werden. Um den historischen Kontext Jesu auszuleuchten, sind alle Materialien, die hierüber Informationen liefern, heranzuziehen. Biblische und außerbiblische Texte halten Kenntnisse zur Geschichte Palästinas und des galiläischen Judentums bereit. Archäologische Funde, Inschriften oder Münzen helfen, dieses Bild zu konkretisieren. Die umfassende Berücksichtigung dieses Materials ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der Jesusforschung geworden.14 Mit dem Programm, Jesus aus seinem konkreten jüdischen Kontext heraus zu verstehen, bewegt sich die Jesusforschung dabei in den Spuren von Reimarus.

      Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem besonderen Charakter der Evangelien. Hatte noch Reimarus – ähnlich wie auch Lessing – deren Verfasser als glaubwürdige