DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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bis ein Flächenbrand entfacht ist. Plötzlich kommt es in der Region durch eine Überhitzung der medialen Auseinandersetzungen zu tatsächlichen Ausschreitungen mit mehreren Toten. Keine Regierung schafft es bei der Gewaltspirale, die daraufhin entsteht, den Überblick zu behalten, wie der örtliche Konflikt eigentlich entstanden ist. Die einzige Maßnahme, die hilft, sind Truppenverlegungen in die Region, um durch militärische Präsenz für Ruhe zu sorgen. Letztendlich haben sie echte Tote und tatsächliche Militärbewegungen aufgrund einer einzigen falschen Nachricht. Nachvollziehbar?«

      Bedrückendes Schweigen und Kopfnicken bei den Jugendlichen.

      »Folgendes hatte sich 2023 abgespielt: Ein Schnellboot eines dänischen Marineverbandes soll sich kurzzeitig in schwedischen Hoheitsgewässern aufgehalten haben. Das ist belegt! Nach Aussage des skandinavisch-russischen Bündnisses, soll dies eine bewusste Provokation gewesen sein, da von gezielten Schüssen auf ein Boot der schwedischen Küstenwache berichtet wurde. Das wurde jedoch nie bewiesen, doch es ging millionenfach durchs Netz!

      Nur einen Tag später traf eine russische Flotte ein und verstärkte die schwedische Marine. Man stand den NATO-Verbänden in der Ostsee südlich Kopenhagens in Schussweite gegenüber. Zerstörer, Fregatten und Korvetten, so weit das Auge über den Südrand des Kattegats reichte. Und das war nur das Aufgebot oberhalb des Meeresspiegels. Seit dem Wiederaufleben des Kalten Krieges wenige Monate zuvor lagen die Nerven blank. In dieser aufgeheizten Situation verletzten vermutlich Einheiten beider Seiten die gegnerischen Hoheitsgebiete, zumindest kochten derartige Meldungen hoch und führten vielerorts zu Gegenreaktionen. Immer wieder kam es zu kurzen Schusswechseln. Es fehlte nur noch ein Funke für eine Eskalation und dieser Funke war vergleichsweise marginal.

      Der unachtsame Kapitän des Schnellbootes steuerte durch einen Navigationsfehler in eine falsche Richtung und überschritt, ohne einen NATO-Auftrag zu haben, die Grenzlinie, sodass er sich plötzlich zwischen den Fronten befand. Als er den Fehler bemerkte, hatten ihn längst gegnerische Schiffsgeschütze ins Visier genommen und Marschflugkörper kreisten über dem Boot. Er konnte weder vor noch zurück. An sich sollte so ein Versehen nichts sein, was einen Krieg auslöst, doch es ging weiter.

      Um eine Klärung herbeizuführen, sprach der Regierungschef von Schweden mit der Ministerpräsidentin Norwegens über eine angeblich gesicherte Telefonleitung. Dabei fielen Worte wie Erstschlag und atomare Reaktion, zwar nicht als Drohung, sondern als das, was es zwingend zu vermeiden galt. Die Begriffe waren illegal mitgeschnitten und aus dem Zusammenhang gerissen auf der Tonspur im Internet veröffentlicht worden. Dies führte zur Eskalation!

      Am gleichen Abend trat der Befehlshaber der skandinavisch-russischen Allianz vor die Presse und kündigte einen massiven Gegenschlag an, sollte eine Nation seines Bündnisses den Verteidigungsfall feststellen. Diese Aussage legten die klassischen und sozialen Medien so aus, dass man bereits atomare Einheiten in Stellung gebracht hatte. Etwas das so nicht stimmte.

      Wir gehen heute davon aus, dass die mediale Meinungsbildung durch die Terrororganisation gezielt beeinflusst und gesteuert wurde. Nur Stunden später jagte dann eine M109 mit Männern der ATG den grenznahen Reaktor der EU hoch und war dabei so nah am Ort der Explosion, dass von den Terroristen keine Beweise zur Klärung der Nationalität übrig blieben. Was folgte, war die direkte Verurteilung des Angriffes durch die NATO und der Start der ersten Atombomben Richtung Schweden. Eine Kettenreaktion, da die Antwort aus dem gesamten Raum des skandinavisch-russischen Bündnisses in Form von Nuklearwaffen kam.

      Es dauerte vierzig Stunden, um zu belegen, dass der Auslöser für diesen Krieg afrikanischen und nicht schwedischen Ursprungs war. Das Gefährliche an der Situation damals war die unübersichtliche und bis zum Zerreißen gespannte Lage, in der das gefälschte Schreiben des schwedischen Ministerpräsidenten die Beeinflussung der Medien und der dann tatsächliche Terroranschlag durch das Artilleriegeschütz ausreichte, um die Welt beinahe auszulöschen. Niemand hinterfragte mehr die Fakten. Sie schienen in sich schlüssig.

      Von diesem Tag an verzichteten die meisten Regierungen im diplomatischen Bereich auf Datenleitungen sowie jegliche Beteiligung in den sozialen Medien und setzten stattdessen Informanten für den Informationsaustausch ein. Zugleich blockierten sie im Krisenfall solange sämtliche Kommunikationsmittel, bis eine Klärung herbeigeführt wurde – ein Verfahren, welches zeitaufwendig war, aber für Sicherheit sorgte und bis heute nicht mehr aufgegeben wurde.

      Glücklicherweise ließ sich die Situation mit dem Tod des Informanten wieder befrieden. Ein Zeitpunkt, den ihr unter der Bezeichnung Judgement Day kennt. Ein Tag, an dem die Welt mehr Glück als Verstand hatte, denn eigentlich war der Untergang programmiert. Dennoch kam es bis dahin zum Start von einhundertachtundsiebzig atomaren Sprengköpfen. – Kommt mal mit an diese Vitrine.«

      Der Lehrer zeigte den Jugendlichen einen Globus, welcher den flächenmäßigen Anteil der Erdkugel hervorhob, der nach dem Judgement Day unbewohnbar war.

      »Zum Vergleich. Die Atombombe, die 1945 auf Hiroshima niederging, verfügte über eine Sprengkraft von dreizehn Kilotonnen TNT. Das verdeutlicht der kleine Stecknadelkopf im Süden von Japan. Die Kernwaffen der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts hingegen hatten im Durchschnitt die sechstausendfache Wirkung. Das sind zwischen sechzig und fünfundneunzig Megatonnen. Stellt euch davon einhundertachtundsiebzig auf sämtlichen Kontinenten vor. Die Auswirkungen verdeutlichen die blauen Flächen auf dem Globus.

      Aber es geht heute im Schwerpunkt nicht darum. Lasst uns bei dem Geschütz bleiben, welches alles ausgelöst hat. Es steht da drüben.«

      Die Blicke der Jugendlichen wechselten in Richtung der mit Blei ausgekleideten Nachbarhalle.

      »Den Planern dieses unvorstellbaren Aktes der Zerstörung spielte ein Umstand in die Hände, der anfangs nicht aufgeklärt werden konnte. Denn eigentlich kann ein so altes Waffensystem gar nicht mehr schießen, schließlich hatte man es um die Jahrtausendwende ausgesondert. Kein Mensch brauchte in Zeiten überschaubarer Militäreinsätze gegen terroristische Organisationen Artillerie, wie sie in den großen vaterländischen Kriegen zum Einsatz gekommen war. Und bei der Aussonderung dieser Systeme hatte man sie vor vier Jahrzehnten technisch so verändert, dass sie nicht länger unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fielen. In der Regel geschah das durch diverse Bohrungen am Verschluss und Verschweißungen an der Waffenmechanik, nach dem damaligen Stand der Technik ausreichend. Mit heutigem Wissen wäre jedoch das Ausgießen des Rohres mit Stahl der bessere Weg gewesen. Denn Verschlüsse und verschiedene andere Bauteile ließen sich zwanzig Jahre später problemlos mit Polytitankunststoffen im 3-D-Druckverfahren in jedem Hobbykeller fertigen.

      Und damit ich nicht die ganze Zeit rede, findet ihr nebenan einen kleinen Kinoraum. In dem bekommt ihr weitere Hintergründe zur ATG und der Planung des Anschlags. Der Film geht nur zwölf Minuten und beginnt jede Viertelstunde. Also«, der Lehrer sah auf seine Uhr, »gleich.«

      Während die Klasse durch die Flügeltüren den Raum verließ, blieb Zoe vor der Glasscheibe stehen und streckte die Hand nach ihr aus.

      »Nicht!«

      Ein an der Seite stehender Museumsangestellter wies auf das Messingschild neben dem verglasten Durchgang.

      KEINESFALLS BERÜHREN!

      Die M109 wurde in einem hochaufwendigen Verfahren teildekontaminiert, dennoch besteht eine radioaktive Reststrahlung, der wir mit einer kompletten Bleiauskleidung des Raumes und dieser Schutzscheibe, die aufgrund der Strahlungsaufnahme regelmäßig gewechselt wird, begegnen.

      Die Museumsleitung

      Zoe starrte auf den Metallkoloss und konnte sich nicht erklären, warum. Schließlich hatte sie für Kriegstechnik wenig übrig. Aber das verschmolzene Aluminiumgehäuse des Geschützes faszinierte sie. Womöglich weil es mehr zu sagen hatte als die restlichen Ausstellungsstücke. Weil es nur ihr etwas sagen wollte, das es allen anderen verschwieg.

      Etwas vom 18. August 2023.

      5

      Der 18. August war ein Donnerstag.

      Man hatte