DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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allen war eines gemein: die Art, Zoe anzusehen – vorwurfsvoll und anschuldigend zugleich.

      Man konnte dafür Verständnis aufbringen, sobald man eine gewisse Reife hatte. Doch für einen Teenager war es unerträglich. Blicke dieser Art erdrückten.

      Ist es zu viel verlangt, dass du etwas demütiger bist, du undankbares Miststück? Du wirst leben, obwohl du in deinem Alter noch nichts geleistet hast, schien ihr eine abgerissen wirkende Sechzigjährige entgegenzuschreien, die sich Zoe auf dem Gehweg näherte. Doch aus dem Mund der Frau war kein Ton gekommen. Nur das Fehlen ihrer Haare sprach Bände.

      Zoe war froh, dass ihr Schulweg nur dreihundert Meter betrug. Weitere solche Begegnungen verkraftete sie heute nicht.

       Nur noch die Straße runter, einmal abbiegen und …

      »Ach Kacke!«

      Als sie um die Ecke kam, stand ein Bus vor der Einfahrt.

       Der Geschichtsausflug.

      Geschichte fand Zoe grundsätzlich gut. Nur die Jungen aus ihrer Klasse nervten und machten aus jedem Ausflug eine Katastrophe.

      Bei der Klassenfahrt im Frühjahr hatten die vier Halbwüchsigen beispielsweise festgelegt, wer welches der drei Mädchen bekäme, auch wenn das völlig aussichtslos war. Es wurden sogar Wetten abgeschlossen, wer es wohl schaffen würde, seines zu küssen.

      Die Tatsache, dass es in der Klasse rein rechnerisch nicht für jeden Jungen ein Mädchen gab, sorgte dabei regelmäßig dafür, dass solche Spiele mit Ärger endeten. So hatte Zoe während der Klassenfahrt kaum eine halbe Stunde gehabt, ohne von einem der Halbstarken belagert zu werden oder eine ihrer unreifen Streitereien zu ertragen.

      Sie ahnte, dass sich der heutige Tag ähnlich entwickeln würde.

      Und tatsächlich liefen die Jungen zu Höchstform auf und belästigten sie auf der Hinfahrt – abgesehen von Liam, der seit zwei Wochen ungewohnt still war.

      Genauso genervt wie von ihrem Vater war Zoe acht Minuten später die Erste, die dem Bus und damit den unsäglichen Annäherungsversuchen der Halbgewalkten entfloh und sich lieber der Strahlung als deren billigen Sprüchen aussetzte.

      Jetzt habe ich tagsüber diese Hirnis zu ertragen und zu Hause den Arsch. Zu Hause? Das ist es ja nicht einmal. Mein Zuhause war bei Mama!

      »ZOE, WO IST DEIN CAPE?«, brüllte ihr der Lehrer hinterher.

      Zoe war zu entnervt, als dass die Ermahnung etwas bewirken konnte. Lediglich die anderen sechs gehorchten und streiften teils widerwillig transparente Wegwerfumhänge über, die den Staub von Kleidung und Haaren fernhalten sollten. Von Erwachsenen eine konsequent genutzte Schutzvorkehrung. Bei Pubertierenden in der täglichen Anwendung regelmäßig schwierig.

      »Wir finden uns im Foyer zusammen«, drang vor dem Bus eine verärgerte Stimme durch das allgemeine Gemurmel und Gelächter. Der Lehrer hatte sich für den Ausflug legerer als sonst gekleidet und wollte den Tag etwas zurückhaltender angehen – was er nun mit lautstarken Ansagen korrigierte.

      »Hört mir jetzt mal zu«, begann er gereizt, als der Letzte es endlich in den Vorraum des Landesmuseums geschafft hatte. »Meine Herren, geht es auch mal ohne Gequatsche?!«

      »Ungern«, kam es aus der zweiten Reihe.

      »Zuhören! Ich will bei einem Ausflug nie wieder jemanden ungeschützt draußen rumlaufen sehen. Und auf dem Rückweg lasst ihr das Herumgequatsche. Ihr habt am Tag nur eine dreiviertel Stunde im Freien. Da können wir nicht fünf Minuten mit dem Weg vom Bus bis hierher verplempern. Ist das bei jedem angekommen? Und falls manche unter euch schwer von Begriff sind: Ich habe noch zwei Vorträge zu vergeben. Einen über Geschlechtskrankheiten und einen über Sexualität im Alter. Der Nächste, der mir Anlass dazu gibt, bekommt einen.«

      Der Lehrer hatte tief in die Trickkiste gegriffen. Es gab keine solchen Unterrichtsthemen geschweige denn entsprechende Vorträge. Aber Drohungen dieser Größenordnung funktionierten, wenn man sie nicht zu oft einsetzte.

      »So, und jetzt für alle. Das waren insgesamt dreizehn Minuten für den Hinweg.«

      Jeder der Jugendlichen zog sein Smartphone aus der Jackentasche oder gab an der Armbanduhr den angesagten Wert ein. Zoe verblieben für den Tag noch achtundzwanzig Minuten. Liams Uhr zeigte weniger als fünf an.

      »Ich weiß, dass es manchem schwerfallen wird, aber ich erwarte während des Rundgangs ein Mindestmaß an Respekt. Das Thema haben wir lang und breit behandelt. Dennoch glaube ich, dass dieser Ausflug wichtig ist, damit ihr euch des Ausmaßes der Zerstörung durch die Anschläge von 2022/2023 bewusst werdet. Die Opferzahlen sind weit höher als die des Zweiten Weltkrieges. Und das, obwohl nur einige Hundert Leute das Ganze geplant und umgesetzt haben. Es brauchte nicht einmal eine Armee, und das bei einer Katastrophe, die selbst jetzt noch jedes Leben bestimmt. Das muss man sich vor Augen halten! Also, verhaltet euch entsprechend. Vor allem du, Florian.«

      Der Angesprochene verstummte. Er wollte keinen der beiden Vorträge bekommen. Das waren seine Kaspereien nicht wert.

      »Na dann, lasst uns in den Bereich der sogenannten Voranschläge gehen.«

      Die Klasse betrat die erste Halle und verteilte sich dort bemerkenswert ruhig. Der Raum wurde nur minimal erhellt und gab allein durch die Dunkelheit einen Teil der bedrückenden Stimmung an die Jugendlichen ab. Nur wenige Strahler lenkten den Fokus der Besucher auf die Seitenwände.

      »Wir sehen hier die erste Anschlagswelle vom Sommer 2022. Sie ist von den Dimensionen und der Art der Ausführung her mit dem Angriff auf das World Trade Center im Jahr 2001 zu vergleichen. Es waren die letzten Attentate der Terrorgruppe ATG, bei denen Flugzeuge zum Einsatz kamen. Die Organisation hatte afrikanische Wurzeln und richtete sich nicht nur gegen die gesamte westliche Welt, sondern gegen jegliche Nationen nichtafrikanischen Ursprungs.«

      Eine Hand wurde zaghaft gehoben.

      »Ja, Sveda?!«

      »Was heißt ATG?«

      »In der Originalsprache ist es ein Zungenbrecher, aber übersetzt bedeutet es afrikanische Wiedergeburt. Gibt es weitere Unklarheiten?«

      »Warum hatte die Gruppe einen so großen Hass auf alle?«

      »Gute Frage! Die Situation auf dem Kontinent war damals ähnlich katastrophal wie heute. Eine HIV-Quote von neunzig Prozent und noch andere nicht enden wollende Epidemiewellen, denen die Bevölkerung ausgeliefert war. Der Niedergang Afrikas zeichnete sich schon zu dieser Zeit ab, und die gesamte restliche Welt sah tatenlos zu. Hier seht ihr einige Dokumente aus dem Umfeld der Terroristen.«

      Der Klassenlehrer wies auf eine Vitrine mit Briefen und Bekennerschreiben, die die Schüler kaum beachteten – alle blickten auf die großflächigen Projektionen an den Wänden. Niemandem fiel dabei die veraltete Technik aus den Zweitausendzwanzigerjahren auf, bei der Monitorfolien einen Teil der Terroristenwerkstatt darstellten. Erst an der Stirnseite der Museumshalle ging man mit der Zeit und überließ Lasern die bildgebenden Verfahren. Das Licht jedes Lasers war grundsätzlich unsichtbar. Doch dort, wo sich die Signale zweier Laserstrahlen im Raum trafen, erzeugten sie ein eindrucksvolles Bild, das an Farbtiefe und 3-D-Authentizität nicht zu übertreffen war. Es brauchte dadurch keine Projektionsfläche. Ein Abbild der Werkbank, auf der die Terroristen die Munition ihrer Handfeuerwaffen fertigten, konnte so mitten in der Halle platziert werden.

      »Wie bereits angesprochen, wurden die Anschläge nach dem Vorbild des elften September geplant, was letztlich dazu führte, dass heute in sämtlichen Flugobjekten Freigabeboxen installiert sind, die einen Start erst dann ermöglichen, nachdem die Luftraumkontrollbehörden den Flug zugelassen haben. Ohne diese technischen Schutzmaßnahmen konnten im Sommer vor zweiundzwanzig Jahren innerhalb von einigen Stunden an elf Standorten in Europa, Asien und Amerika Sportmaschinen trotz fehlender Flugerlaubnis abheben. Bis unters Dach mit Sprengstoff gefüllt und in einem Fall sogar mit einer Bombe an Bord stürzten sie in nahe gelegene Großveranstaltungen.