DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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sog das darin befindliche Gel heraus.

      »Es schmeckt beschissen«, hatte ihm der Inhaber der Boxhalle versichert, als dieser ihm das Schmerzmittel in die Hand gedrückt hatte. »Bevor du auch nur darüber nachdenkst, das Zeug runterzuschlucken, ist es längst dabei, in deiner Birne einen Schalter umzulegen. Und danach läufst du einen Marathon, selbst wenn ich dir vorher den Fuß breche.«

      Obwohl Marten den Typen mit dem permanenten Schweißgeruch grundsätzlich für einen Schwätzer hielt, so hatte er dieses Mal nicht zu viel versprochen.

      Mit dem letzten Tropfen auf der Zunge begann der Schmerz aus den Knochen zu weichen und er spürte, wie das hoch dosierte Mittel wirkte.

      Ich muss langsam erwachsen werden und mich nicht jedes Mal herausfordern lassen, dachte er, während er das Tütchen verschwinden ließ und sich wieder dem Publikum zuwandte. Wenn es jemand mit zehn Kilo weniger auf den Rippen ohne Probleme schafft, mir den Kiefer mit einer geraden Linken anzubrechen, dann sind meine aktiven Zeiten eindeutig zu lange her. Bin schließlich keine achtzehn mehr.

      Eine Viertelstunde später verließ Marten die Bühne und kurz darauf den Saal.

      Er ging davon aus, dass er zwar viele im Publikum erreicht hatte, aber nachdenklich stimmen konnte er wohl nur die Wenigsten. Doch das kümmerte ihn nicht – sein Auftrag war es zu informieren, nicht zu bekehren.

      Im Foyer befanden sich eine Frau an der Garderobe, ein älterer Mann im Eingangsbereich und zwei Herren in dunklen Anzügen, die auf ihn zukamen.

      »Folgen Sie uns«, sagte einer von beiden mit einer Selbstsicherheit, die keine Gegenwehr zuließ.

      »Einen Teufel werde ich«, entgegnete Marten empört.

      »Es geht um Ihre Arbeit.«

      »Ich kenne Sie nicht einmal«, regte sich der Psychologe auf und bekam einen Regierungsausweis vors Gesicht gehalten.

      »Wir brauchen mehr Informationen zu dem, was Sie im Vortrag angesprochen haben.«

      »Dann lesen Sie meine Studie, so wie ich es jedem da drinnen angeboten hatte. Laden Sie sie herunter. Sie ist frei verfügbar.«

      »Lassen Sie das! Sie werden persönlich benötigt.«

      »Kein Interesse!«

      Marten ließ die Männer stehen und machte sich auf, das Kongresszentrum zu verlassen.

      »Ich habe zu Hause einen Teenager. Der stellt mich schon vor genug Probleme. Da brauche ich Ihre nicht auch noch.«

      »Sind Sie sicher?«

      Die Frage klang bedrohlich.

      »Wenn Sie jetzt gehen, sehen wir uns in kürzester Zeit unter anderen Umständen wieder.«

      »So motivieren Sie niemanden, junger Mann«, erwiderte Marten, zog sich Atemfilter und Cape über und verließ das Foyer.

      Ihm blieben an diesem Tag noch zwölf Minuten, die er im Freien zubringen konnte – zwei, um bis zur RegioMed eine Straße weiter zu gelangen, und zehn für den Heimweg.

      Die RegioMed-Stellen waren ursprünglich geschaffen worden, um die flächendeckende ärztliche Versorgung vor allem in ländlichen Gebieten sicherzustellen. Nun drei Jahrzehnte und ein Kassensterben später verkörperten sie den beklagenswerten Rest, der vom staatlichen Gesundheitswesen übrig geblieben war – kleine Geschäftsstellen mit einem Mitarbeiter, der in einem Schalter saß, der Tag und Nacht geöffnet hatte. Einer auf fünfzigtausend Einwohner. Wer einen Arzt brauchte, ging als Erstes dorthin, trug der Person hinter der schusssicheren Scheibe das Problem vor und bekam in seltenen Fällen einen Behandlungsschein. Mit diesem stellte man sich dann in einer der heruntergekommenen Arztpraxen in der Nähe vor. Ein Verfahren, bei dem der Staat zumindest ein Viertel der Kosten für eine Handvoll diagnostischer Maßnahmen und einige Medikamente übernahm. Den Rest musste jeder selbst zahlen.

      In Martens Fall bedeutete dies, dass drei Tagesgehälter für die Untersuchung seines Unterkiefers als Eigenanteil fällig werden sollten, wobei der Arzt nichts anderes tun würde, als den Knochen abzutasten und sich von der Funktion der Kiefergelenke zu überzeugen. Eine Computertomografie bei einem Verdacht auf eine Fraktur würde die Kosten verdoppeln. Käme dabei heraus, dass der Bruch operativ versorgt werden müsste, wäre dies für ihn finanziell nicht machbar. Genauso wie der Abszess in Martens Stirnhöhle, den er seit der Scheidung nicht entfernen lassen konnte. Das Gleiche galt für die Nierenpunktion, die er vor sich herschob, seitdem seine Werte nicht mehr stimmten. Allerdings war er mit den Jahren nicht mehr sicher, ob er die Diagnose, die hinter den Beschwerden stand, wirklich wissen wollte. Es gab nur drei Erkrankungen, die zu den Symptomen passten. Zwei waren zu annähernd hundert Prozent heilbar, aber die Therapiekosten machten einige Jahresgehälter aus und lagen außerhalb seiner Reichweite. Variante drei hieß Krebs und würde unweigerlich eine nicht zu stoppende Maschinerie von Konsequenzen nach sich ziehen: Im ersten Schritt müsste Marten akzeptieren, dass ihm die Mittel für die Tumortherapie fehlten. Rücklagen hatte er nicht und jede Bank verweigerte ihm einen Kredit mit einem Krebseintrag in den Daten. Also würde er dem Karzinom Tür und Tor öffnen und es im Grunde genommen auffordern, im Körper Metastasen zu streuen. Während er monatelang darauf wartete, sollte es ihm gesundheitlich immer unmöglicher werden zu arbeiten. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er vollständig ausfiel. Und dann? Dann wäre die Kündigung unausweichlich und würde ihm langfristig jegliche Existenzberechtigung nehmen. Wenig später würde er ebenso wie seine Ex-Frau aus dem System fallen.

      7

      Geschafft ließ sich Marten in den Sessel fallen und riss ein Tütchen des Schmerzgels auf.

      »Bist du wieder da?«, fragte er, als die Wohnungstür leise geöffnet wurde.

      »Kann dir doch egal sein«, kam es von Zoe zurück, die versuchte, in ihr Zimmer zu verschwinden.

      »Mädchen, jetzt warte mal. SO LÄUFT DAS NICHT! Entweder finden wir einen gemeinsamen Nenner, oder wir lassen das Ganze hier.«

      »Mann, was willst du denn von mir?!«

      Trotzig blieb die Schwarzhaarige stehen.

      »Ich habe wirklich Verständnis für deinen Unmut, für die Pubertät und alle anderen widrigen Umstände, aber …« Marten war anzusehen, dass er sich vor Schmerzen kaum auf das Gespräch konzentrieren konnte. »Allerdings geht es mir gerade auch nicht besonders. Ich hatte mittags einen Abstecher in die Boxhalle gemacht, um den Kopf freizubekommen, und mich von Steve zu einer kleinen Runde verleiten lassen. Er hat mir eine Fraktur irgendwo beim Kiefergelenk verpasst. Also nimm dir meinetwegen ein Bier – gern auch etwas anderes, wenn dich das runterbringt. Aber wir beide haben ein ernsthaftes zwischenmenschliches Problem, welches wir entweder jetzt aus der Welt schaffen, oder mein früheres Schlafzimmer wird ab morgen wieder mein Schlafzimmer. Verdammter Mist, tut das weh!«, fluchte Marten und drückte das Schmerzmittel aus der Verpackung.

      Als Zoe in der Tür stand und von einem Lagerbier kostete, entkrampften sich allmählich die Falten zwischen seinen Augenbrauen und er konnte wieder klare Gedanken fassen.

      »Da hat jemand den Steve unterschätzt, was?«, grinste die Dreizehnjährige.

      »Ich hatte nur einen schlechten Tag.«

      Marten wusste, dass das gelogen war, aber etwas Gegenwehr von ihm war für den Gesprächsverlauf durchaus förderlich.

      »Genau!«, belächelte sie ihn. »Hast du dir mal Steves Arme angesehen und mit deinen verglichen?! Der ist bestimmt drei Mal die Woche im Fitnessstudio. Brauchst du Tiefkühlgemüse?«

      Er nickte und sah, wie Zoe im Flur verschwand. Kurz darauf hatte sie die Brieftasche des Vaters in der Hand und erleichterte sie um einen Schein.

      Ohne den Hauch eines schlechten Gewissens kam sie mit einer Packung Erbsen zurück, mit der Marten die rechte Wange kühlte.

      »William?«

      Er