DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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Clouds, um es Attentätern möglichst schwer zu machen, etwas Vergleichbares ein weiteres Mal zu planen. Das hier ist das erste Ziel gewesen: Strahov Stadion. Prag. Achtzehntausend Opfer.«

      Er wies auf ein Video mit einer gigantischen Sportstätte, auf dem die Hälfte der Tribünen ausgebrannt war. Aber der Lehrer verweilte nicht lange bei der Aufzeichnung vom ersten Anschlagsort.

      »Der Karnevalsumzug in Buenos Aires. Über einunddreißigtausend Tote.«

      Das Bild brannte sich noch tiefer in die Köpfe der Jugendlichen.

      »Und hier das Neyland Stadium. Knoxville. Ein Konzert. Achtzigtausend Besucher. Achtzigtausend Opfer. Das Perfide an diesem Anschlag: Die Maschine enthielt eine vereinfachte Version einer Kobaltbombe. Etwas bis dato nicht Dagewesenes, bei dem im Umkreis von einem Kilometer niemand überlebte. Wie ihr seht, sind die Gebäude aber erstaunlicherweise weitestgehend intakt.«

      Von den Jugendlichen war keinem mehr nach den Witzen zumute, die es bei der Hinfahrt noch reichlich gegeben hatte.

      Jeder kannte die Ereignisse von 2022/2023 und auch jeder Einzelne trug Tag für Tag die Konsequenzen. Dennoch stellte die allgegenwärtige Verstrahlung für die Schüler die Normalität dar. Für sie gab es keine Erinnerung an die Zeit davor. Die Geschehnisse lagen dafür einfach zu weit in der Vergangenheit.

      Genau aus diesem Grund brauchte es für die Klasse diese eindringlichen Bilder, damit sie das wahre Ausmaß dessen begreifen konnte, was vor mehr als zwei Jahrzehnten passiert war.

      »Ich gebe euch einige Minuten, dann treffen wir uns in der zweiten Halle, denn das war – wie jedem bekannt sein sollte – erst der Anfang.«

      3

      Erregt, als würde ihr Herz mit doppelter Geschwindigkeit schlagen, stand die Staatssekretärin am Eingang des Sitzungssaals und hörte dumpf, wie die Zugänge von außen mit Ketten verschlossen wurden.

      Oh mein Gott, dachte sie, als sie ein Glühen durchströmte, das sie in Gänze ausfüllte – eines, das ihren Körper schwebend leicht werden ließ. Mit einem Lächeln nahm sie zur Kenntnis, dass die Dosis zu hoch war. Manchmal gierte sie derart nach dem grauen Pulver, das sie sich bei der Länge der Line vertat und so fast die doppelte Menge in die Nase zog. Den darauf folgenden Kick gab es nie direkt, sondern immer erst einige Minuten später.

       So lebendig wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt! Verflucht … das gibt’s doch gar nicht!

      Ein balkonähnlicher Rang überdachte die Saaleingänge. Als Vizehausherrin des Kanzleramtes hatte sie dafür gesorgt, dass an diesem Tag oben niemand saß.

      Vor ihr befanden sich mehr als ein Dutzend Sitzreihen. Mit etwas Gefälle zogen sie sich in immer kleiner werdenden Halbkreisen nach unten und umschlossen von drei Seiten ein Podest im Zentrum des Raumes. Darauf stand deutlich erhöht ein Pult.

      Wählte man einen Platz mittig im Saal, saß man auf Augenhöhe mit dem Redner. Gab es jedoch lediglich ein überschaubares Publikum, für das die vorderen Sitzreihen reichten, sah es anders aus. Dann erhob sich jeder, der das Pult bestieg, in nahezu arroganter Art über die Zuhörerschaft.

      Wie an diesem Tag, an dem die Staatssekretärin in wenigen Augenblicken auf dreißig Personen in den ersten zwei Reihen herabschauen sollte. Ihr Blickwinkel auf das Plenum würde kein wichtiges Detail der Rede sein, die sie vorbereitet hatte – aber ein angenehmes, angesichts der Überheblichkeit, mit der die meisten der Anwesenden ihre Ämter bekleideten.

      »Satt und fett hockt ihr da, ihr Maden. Garantiert hat jeder von euch seit gestern mindestens eine halbe Stunde in der Reinigung zugebracht. Man muss sich ja pflegen, auch wenn man zu nichts taugt«, fluchte sie mit gedämpfter Stimme.

      Sie kam langsam den Gang herunter und verhinderte nicht, dass Abscheu ihre Gesichtszüge bestimmte.

      Alle, die vor ihr saßen, nutzten ihr Vorrecht auf Dekontamination und ließen keine zwei Tage vergehen, um in einer Reinigung das Blutplasma mit einem Gemisch aus Bentonit-Zeolith-Partikeln anreichern zu lassen. Eine Prozedur, die neben den Privilegierten nur ein geringer Teil der Bevölkerung finanzieren konnte. Die Mineralien wurden dabei mithilfe einer Infusion in den Blutkreislauf eingebracht und verteilten sich dort in kürzester Zeit. Neunzig Sekunden später waren sie bereits einmal durch das komplette System der insgesamt hunderttausend Kilometer langen Blutgefäße eines Körpers gespült geworden. Den Weg nahm das Mittel zwölf bis fünfzehn Mal und absorbierte auf diese Weise den Großteil der radioaktiven Strahlung selbst in den entlegensten Winkeln. Anschließend entledigte man sich des im Plasma befindlichen Gemisches mittels Blutwäsche. Durch eine Kanüle in der Armbeuge floss das Blut in eine Zentrifuge, gab das Plasma ab und gelangte zusammen mit einer Jod-Kochsalzlösung durch den anderen Arm wieder in den Körper. Ein System, mit dem sogar mittelgradig kontaminierte Personen binnen Wochen ihre Strahlungswerte in den gesundheitlich unbedenklichen Bereich senkten.

      »Meine Damen und Herren, in Ihren Köpfen wird die Frage kreisen, warum Sie jegliche Termine zugunsten dieses Treffens streichen mussten und weshalb der Kanzler nicht einmal auf Krankheitsfälle Rücksicht nehmen konnte. Was kann so wichtig sein, dass selbst ein Krankenschein keine Bedeutung mehr hat?«, fragte sie laut in den Saal und rieb sich das Kinn, kurz bevor sie das Mikrofon des Rednerpults erreichte. Den Zuhörerkreis in Augenschein nehmend zog sie ihre Brille aus der Innentasche des Kostüms.

      »Zum einen teile ich Ihnen mit, dass der Kanzler heute nicht vor Ort ist und mir diese Besprechung übertragen hat. Sehen Sie mich damit kanzlergleich!«

      Ihre Stimme senkte sich.

      »Zum anderen …« Die Staatssekretärin kämpfte mit zusammengekniffenen Augen gegen einen erneuten Drogenschub an. Für Sekunden drohten ihr die Beine wegzusacken. Überrascht von der Intensität krallte sie sich an das Rednerpult und warte, bis der Höhenflug vorbei war.

      »Zum anderen …«, ihr Gesicht entkrampfte sich wieder, »… müssen wir uns mit einem Problem auseinandersetzen, das man als undichte Stelle bezeichnen sollte.«

      Die Staatssekretärin strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und setzte ihre Brille auf. Sie wusste, dass es für die Anwesenden keinen Unterschied machte, ob sie oder der Regierungschef zu ihnen sprach. Sie wurde nicht grundlos als graue Eminenz bezeichnet, die spätestens seit dieser Legislaturperiode als unantastbar galt. Sie stand in so engem Verhältnis zum Kanzler, dass jeder Auftrag von ihr wie eine Anordnung des Regierungschefs gewertet wurde. Das bezweifelten selbst Minister nicht, deren Gehaltsbezüge noch über denen der Chefin des Kanzleramtes lagen.

      »Das Gute ist, ich habe gleich einen Lösungsvorschlag parat, aber ich will nur ungern vorgreifen. Kommen wir zurück zu unserem Problem.«

      In den Reihen wurde es unruhig.

      »Ich und vor allem der Kanzler sehen in einer Regierung die Chance, das zu tun, was für die Bürgerinnen und Bürger generationsübergreifend das Beste ist. Das schließt auch Entscheidungen mit ein, deren positives Ergebnis sich der Bevölkerung heute noch nicht erschließt – wenn Sie wissen, was ich meine.«

      Während sie sprach, ertastete sie im Fach unter dem Pult das, was Roth für sie bereitgelegt hatte. Sie umschloss es mit den Fingern, zog es hervor, zielte und schoss dem Innenminister eine Kugel in den Schädel.

      Krampfend rutschte er vom Sitz.

      »Du bist meine Zuversicht, Herr. Du bist mein Gott, meine Hoffnung!«, drang ihre Stimme durch den Raum.

      Sie war überrascht. In ihrer Hand fühlte sich die Wucht des Rückschlages so wie jeder andere Schuss dieses Waffenmodells an. Nur mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer und den dadurch reduzierten Geräuschen kam er ihr nicht echt vor. Kein ohrenbetäubender Knall – lediglich der synthetisch klingende Rest davon. Das schleifende Klicken der Mechanik, die nicht wahrzunehmende Pause während des Fluges des Geschosses und das kurze Krachen beim Einschlag in das Opfer.

      Doch der Schuss war echt. Der Minister lag leblos auf dem Boden und hatte eine