Halt die Klappe, sonst scheuer ich dir heute tatsächlich eine!
»ES IST SO ZUM KOTZEN HIER!«
Schallend flog die Tür zu, während Zoe sich innerlich schwor, nie wieder mit ihrem Vater ein Wort zu wechseln.
SO … WAS … GIBT’S … DOCH … GAR … NICHT!
Mit jeder Silbe schlug er wieder und wieder auf den Türrahmen ein, bis ein kleiner blutiger Abdruck zurückblieb.
»Deine Mutter hat dich wirklich super erzogen«, fluchte Marten vor sich hin.
»BEI MAMA HATTE ICH WENIGSTENS EIN LEBEN!«, feuerte sie durch die geschlossene Tür zurück. Ihre Stimme hatte längst den Normalbereich verlassen und überschlug sich.
»Ach, dann leck mich doch«, resignierte Marten. »Ich bin doch hier nicht immer der Arsch!«
Leck mich? Hab ich das tatsächlich eben zu meiner Tochter gesagt, fluchte er. Früher hatte ich mich besser im Griff. Aber da glaubte ich auch noch, dass ich das mit Zoe hinbekomme.
Niedergeschlagen ging er in die Küche und drückte auf den Knopf des Wasserkochers.
Es war lange her, dass eine Nachricht auf der Mailbox sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte und er mit einem Mal nicht mehr allein wohnte.
»Du … ich«, hörte er damals die dünne Stimme von Zoes Mutter, »ich bin aus dem System gefallen.«
Sie hatte mit der Fassung gerungen und es hatte nicht viel gefehlt, dass sie zusammengebrochen wäre.
»Du musst das mit Zoe … du musst das übernehmen. Ich war lange genug für sie da. Die Hintergründe kann ich nicht erklären. Hol ihre Sachen ab. Die Zahlenkombination an der Wohnung ist ihr Geburtstag. Zoe ist heute und morgen bei einer Freundin. Ich lasse sie von da direkt zu dir bringen. Leb wohl!«
Dann hörte er das Unterbrechen der Leitung und die Stimme der Mailbox fragte, ob er die Nachricht löschen wollte.
Noch am gleichen Abend hatte er sein Schlafzimmer geräumt und so umgestaltet, dass es der damals Elfjährigen zusagen konnte.
Das war nun zwei Jahre her und er hatte seitdem von seiner Ex-Frau nichts mehr gehört.
Marten goss das siedende Wasser in eine Tasse. Als sich das Pulver darin gelöst hatte, zog Kaffeegeruch durch die Küche. Er hatte keine Vorstellung mehr davon, wie echter Kaffee roch. Nach der Katastrophe vor über zwei Jahrzehnten war von den früheren Agrarflächen nur ein Bruchteil übrig geblieben, den man dekontaminieren und durch Treibhäuser vor der Strahlung schützen konnte. Niemand kam in den Folgejahren auf die Idee, dort Genussmittel anzubauen – zu problematisch war es allein schon auf den begrenzten Flächen ausreichende Erträge an genverändertem Getreide, Obst und Gemüse zu erwirtschaften. Wer Kaffee oder Tabak wollte, musste auf Altbestände zurückgreifen, die vor der Katastrophe produziert worden waren – unbezahlbar für den Großteil der Bevölkerung. Alternativ gab es noch synthetisch hergestellte Substitute, wie das braune mit Koffein versetzte Pulver, dessen Geschmack und Geruch man im Labor an das Original angenähert hatte.
Marten wartete in der Küche. Es war Viertel vor acht. In den nächsten Minuten würde Zoe durch den Flur Richtung Schule rauschen und das Frühstück ignorieren, das er für sie gemacht hatte. Es würde ihr egal sein, dass ihr Vater überhaupt keine Nerven für diese Auseinandersetzungen hatte. Eigentlich sollte er längst an einem Vortrag arbeiten. Gewöhnlich hielt er ihn vor bis zu zwanzig Personen. Am heutigen Abend würden es achthundert sein.
»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn wirklich!«, fluchte Zoe leise vor sich hin.
Sie stellte auf der Armbanduhr fünfundvierzig Minuten ein und stampfte auf kürzestem Weg aus dem Haus, um dem Verursacher ihres Ärgers kein weiteres Mal unter die Augen treten zu müssen.
Der Weg war überschaubar. Ein glücklicher Umstand, da es inzwischen nur noch eine Schule in der sechzigtausend Einwohner zählenden Stadt gab. Manche in der Klasse kamen von so weit her, dass sie jeden Morgen eine halbe Stunde Weg vor sich hatten. Eine Belastung, bei der die Partikelfilter, die den radioaktiven Feinstaub von den Lungen fernhalten sollten, an ihre Grenzen stießen. Die Filterkartuschen wurden auf eine Halbmaske geschraubt, die Nase, Kinn und Mund umschlossen. Vom Gesicht sah man damit nicht mehr als Augen und Stirn.
Zoe war selbst das noch zu viel.
»Am besten wäre so eine alte Maske aus den Weltkriegen«, hatte sie einmal zu ihrem Vater gesagt, als sie im Winter vor vier Jahren mitten in der Nacht zum Flughafen aufgebrochen waren und der Wagen warmlief. Kurz darauf ließ ein Gesetz nur noch Fahrzeuge mit Brennstoffzellen auf die Straße – eine Regelung, die Autos für die meisten Familien unerschwinglich machte. »Weißt du, was ich meine? So ein Gummiding, bei dem bis auf die Augen das komplette Gesicht verdeckt ist.«
Marten hatte damals eine Vorstellung davon gehabt, was seine Tochter gemeint hatte, die mit dem Finger auf der beschlagenen Beifahrerscheibe etwas zu zeichnen versuchte.
»Damit man nicht mehr sieht, wie alt der darunter ist«, sagte sie mit einer Mischung aus Verbitterung und Traurigkeit.
»Ich hasse es so, in die Augen der ganzen Erwachsenen zu sehen, sobald sie mitbekommen, wie jung ich bin. Diese neidischen Blödmänner!«
Das Bild auf der Scheibe nahm Formen an, bevor die Klimaanlage es trocknete: eine Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger, zerrissen von Kondenswasserrinnsalen.
»Was soll ich sagen, Zoe?«, hatte Marten geantwortet. »Komme mal als Erwachsener mit der Diagnose klar, dass du nie Kinder haben wirst. Und die hat inzwischen fast jeder. Das ist schwer zu verkraften.«
Das ist mir doch kackegal, Mann! Versuchst du überhaupt manchmal, mich zu verstehen?!, hatte sie ihn in Gedanken angefaucht.
Sie hatte damals nicht vorgehabt, ihm zu antworten. Das Gespräch war mit dem Schwachsinn, den er von sich gegeben hatte, für sie beendet.
Zoe war zu diesem Zeitpunkt bereits das einzige Kind in ihrer Straße. Im Sommer zuvor gab es noch ein zweites, doch das erlag Monate später einem Lungenkarzinom. Seitdem hatte es keine Lebendgeburt mehr gegeben – auf einer Strecke von zwölfhundert Metern mit über hundertsechzig Hausnummern und an die siebenhundert Menschen.
Zoe trat vom Grundstück hinaus auf die Straße und zog die Kapuze des Capes tief ins Gesicht. Sie schluckte den Ärger des morgendlichen Streits mit ihrem Vater hinunter und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Das passierte an jedem Tag, an dem sie zur Schule musste, denn sie wusste genau, was sie auf dem Weg dorthin erwartete.
Die alte Frau aus dem Nachbarhaus stand hinter der Gardine und schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass man ihr Geglotze von draußen sah – unabhängig davon, ob sie das Licht im Zimmer ein- oder ausgeschaltet hatte. Zoe riss den Arm zornig in Richtung der Alten und verzog ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze.
Erschrocken wich die Frau zurück.
Zoe ging weiter, wohlwissentlich, dass gleich auf der anderen Straßenseite die Tür geöffnet würde.
Der Typ, der das heruntergekommene Haus allein bewohnte, sollte wie immer ohne Cape, nur in dreckigen, schlabberigen Klamotten vor bis an den Zaun gehen, Zoe zulächeln, den Müll in die Tonne werfen und erst wieder hineingehen, wenn sie außer Sicht wäre. Natürlich sah sie dessen Gesicht unter der Maske nicht, aber so, wie sich die Augen verzogen, konnte es nur ein widerliches Lächeln sein, das er ihr allmorgendlich entgegenbrachte. Der Mann ekelte Zoe an.
»Mann, verpiss dich, du pädophiles Schwein!«, schrie sie über die Straße und verscheuchte ihn, als er, wie erwartet, die Haustür öffnen wollte.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, zog sie das Tempo an, um ihrem Ziel näherzukommen.
Der Rest der Anwohner war unauffällig und selten zu sehen. Es gingen ohnehin nur noch die ins Freie, die keine andere Möglichkeit hatten.