DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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der Preis stimmte, fragte niemand nach den Hintergründen des Auftrages.

      Die Zugmaschine schob das Waffensystem auf die Erdsporne, koppelte ab und machte sich auf den Rückweg. Zurück blieben ein milder Morgen und eine Besatzung, die aus drei Männern bestand. Zwei zu wenig, um das Geschütz mit der Geschwindigkeit zu betreiben, für die es konzipiert worden war. Aber Geschwindigkeit war für das Vorhaben nicht von Relevanz. Die Mannschaft hatte vom ersten Schuss an eine halbe Stunde, um das Ziel zu treffen – in artilleristischen Größenordnungen war das alle Zeit der Welt.

      Anfangs würden sie Projektile ohne Zünder verschießen und nach jedem einzelnen die Ausrichtung des Rohres korrigieren. So lange, bis sie sich an das Objekt herangetastet hätten. Für das Personal des Reaktors wäre nur ein entfernter Knall der Treibladung zu hören, im Anschluss daran das bedrohliche Surren, wenn Stahl Luft trennte, und dann ein krachender Einschlag. Einer ohne Detonation.

      Der Vorteil an der zünderlosen Munition in Kombination mit einer Anvisiertechnik, bei der man Probeschüsse von unten immer weiter an das Ziel heransetzte, war eine Verdopplung der Trefferwahrscheinlichkeit. Ging das Geschoss zu tief und hatte keinen allzu steilen Winkel zum Boden, entstand ein Abpraller. Es setzte in diesem Fall auf der Erde auf, prallte ab und überschlug sich mehrfach in Richtung Zielobjekt, um es mit etwas Glück doch noch todbringend zu erreichen. Dann explodierten zwar nicht die darin enthaltenen elf Kilogramm Sprengstoff, aber die Wucht von dreiundvierzig Kilogramm, die mit einer Geschwindigkeit von dreitausend Stundenkilometer aus dem Rohr geprügelt wurden, reichte, um einen feindlichen Panzer, an der Wanne getroffen, auf das Dach zu werfen. Das, so glaubte die Mannschaft des Geschützes, müsste auch einem thermonuklearen Reaktor genügen.

      Zumindest die ersten drei, vier Schüsse lang sollte das Kraftwerkspersonal in Chaos verfallen und keine Idee haben, was in ihrer unmittelbaren Nähe einschlug. Und alle dreißig Sekunden würde die Besatzung nachladen und die Feinjustierung des Zielfernrohres geringfügig dem Atommeiler näherbringen.

      Bis es Zeit für Munition mit Zündern wäre.

      »Brüder, es ist so weit.«

      Jamal löste den Verschluss mit einem Schlag auf den Arretierungshebel. Unter metallischem Krachen schloss er den ersten Boten ein, den sie der Welt mitzugeben hatten.

      »Drei, zwei, eins, FEUER!«

      Jamal zog kräftig an der Leine und verursachte einen Donner, der das gesamte Geschütz erst rückwärts auf die Erdsporne und dann nach vorn schwanken ließ. Die Waffenanlage im Kampfraum rauschte an den Köpfen der drei vorbei, schlug innerhalb des Bruchteils einer Sekunde bis fast an die Rückseite des Geschützturmes aus und fuhr wieder in die Ausgangsposition. Der Verschluss stand offen und qualmte.

      »Los, los, los, Männer!«, trieb Noah Bijan und Jamal an, die ein neues Geschoss ins Rohr hievten und es in die Züge und Felder pressten. Die Treibladung dahinter, Anzünder hinein und den Verschlussblock schließen.

      »Feuerbereit!«, schrie Jamal von seiner Position rechts der Waffenanlage.

      »FEUER!«

      Den zweiten Schuss hatte Noah geringfügig höher angesetzt. Ein Abpraller, der krachend in einem der Nebengebäude endete.

      Geschoss um Geschoss ging zünderlos im einen Kilometer entfernten Zielgebiet nieder. Im zweistelligen Meterbereich arbeitete man sich an das Ziel heran. Bis ein Projektil die Reaktorkuppel seitlich streifte und das erste Sprenggeschoss mit Verzögerungszünder in der Waffenanlage auf den Einsatz wartete.

      »Brüder, lasst uns Geschichte schreiben! Seid ihr bereit?«

      Nicken von Bijan.

      Von Jamal kam keine Reaktion aus seinem versteinerten Gesicht, was als Zustimmung zu werten war.

      »Dann sehen wir uns danach. Ich warte auf euch. DREI … ZWEI … EINS … FEUER!«

      Das Geschoss trieb es grollend aus dem Rohr. Durch einen Rechtsdrall stabilisiert steuerte es auf den Reaktor zu, kam etwas tiefer als anvisiert, hielt aber dennoch auf den unteren Kuppelrand zu und schlug ein.

      6

      »Sehr geehrte Damen und Herren, wir werden den zweiten Tag unseres Kongresses mit einem Vortrag beginnen, der definitiv hohe Wellen schlagen wird.«

      Mit tiefer Männerstimme dröhnte der Satz durch das Kongresszentrum, das bis auf den letzten Platz besetzt war.

      »Ich kenne Herrn Martens Ausführungen bereits und seine Sicht der Dinge hat mir gelinde gesagt schlaflose Nächte bereitet. Ich denke, Ihnen wird es genauso gehen. Lassen Sie die Argumente auf sich wirken. Sie haben mit unserer Arbeit auf den ersten Blick wenig zu tun, aber wenn William Marten recht behält, stehen wir vor ernsten Problemen. Doch ich will nicht vorgreifen. Nur noch eine Anmerkung. Der Beitrag musste stark eingekürzt werden, da er sich bedauerlicherweise eine Kieferverletzung zugezogen hat. Er konzentriert sich somit nur auf das Wesentliche. Umso erfreulicher, dass er trotz alledem hier ist. Ich übergebe also das Wort an William Marten.«

      Der Applaus zog Marten auf die Hauptbühne des europäischen Luft- und Raumfahrtkongresses.

      »Ich danke für die Einladung«, begann er. »Es freut mich, heute vor diesem Kreis sprechen zu dürfen, gerade weil alle von Ihnen weitaus mehr von der Raumfahrt verstehen als ich. Deshalb ist die Frage, was ich hier zu suchen habe, durchaus berechtigt. Aber wie bereits angedeutet kann ich zur Diskussion tatsächlich beitragen. Beispielsweise durch die Information, dass das, woran Sie fieberhaft arbeiten, nicht der erste Anlauf für eine Besiedlung eines benachbarten Planeten ist. Vor dreißig Jahren hat es eine ähnliche Planung gegeben, damals im Rahmen eines dänischen TV-Projekts mit einem eigenen Fernsehkanal, der Tag und Nacht jeden Schritt der Bewohner übertragen sollte. Das Vorhaben ist in einem sehr frühen Stadium aus moralischen Erwägungen gestoppt worden. Kein Produzent wollte verantworten, dass dort oben jemand ernsthaft erkrankt und mangels ausreichender medizinischer Versorgung vor laufenden Kameras zugrunde geht. Ich vermute, die Sache war zu kurz in den Medien und ist zu lange her, als dass sie einem von Ihnen noch in Erinnerung ist. Oder irre ich?«

      Er ließ den Blick durch die Zuschauerreihen schweifen und hielt sich die Wange, in der es zu schmerzen begann.

      »Ich bin durch einen Zufall darauf gestoßen, als mir vergangenes Jahr ein Beitrag in einem Fachblatt aus dieser Zeit in die Hände fiel, der das Thema einer generationsübergreifenden Gefangenschaft anriss. Für mich eine hochspannende Sache, mit der ich daraufhin die letzten Monate zugebracht habe. Für Sie wohl nicht ganz so spannend, da Sie als Praktiker die technische Umsetzung weit mehr interessieren dürfte als das, was der Typ auf der Bühne gerade über Gefangenschaft faselt.«

      Marten grinste in sich hinein. Ihm war völlig klar, dass jeder Zweite im Publikum so dachte.

      »Aber manchmal sollte man die Praktiker frühzeitig bremsen, damit sie nicht mit zu viel Enthusiasmus eine Idee verfolgen, die von Anfang an keine Zukunft hat – denn verehrte Zuhörer, lassen wir die Katze aus dem Sack: Die Kolonie, die Sie im Sonnensystem planen, egal wie groß die Population ist, wird nach spätestens vier Generationen keine positive Fortpflanzungsprognose mehr haben.«

      Marten genoss den Anblick fassungsloser Gesichter und vereinzelte Zurufe. Nur sein Unterkiefer machte ihm heftigst zu schaffen. Wenn er den Mund beim Sprechen nicht allzu weit öffnete, ging es, aber das ließ sich bei dieser Veranstaltung unmöglich durchhalten. Während er weitersprach, zog er die Geldbörse hervor und fing an, darin zu kramen.

      »Verstehen Sie mich richtig. Ich finde Ihr Vorhaben großartig und würde mir wünschen, dass es gelänge. Aus meiner fachlichen Sicht jedoch kann es nur scheitern. Denn nach zwei Generationen kommt die Fortpflanzung zwar noch nicht zum Erliegen, aber die Populationsentwicklung wird derart zurückgehen, dass ein dauerhaftes Überleben ihrer Probanden nahezu unwahrscheinlich ist.«

      Die Proteste der Zuschauer wurden lauter.

      Martens hatte zwischen dem Kleingeld gefunden, wonach er suchte, und zog ein winziges Tütchen