DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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      Eigentlich hattest du es verdient, dass ich dich ersticken lasse, überlegte die Staatssekretärin, während die Person ausblutete, die die Hauptverantwortung für den Kontakt zu den polnischen Regierungskritikern trug.

      Die Schreie, die anfangs immer dann aufkamen, sobald sie die Waffe ruckartig bewegte, verstummten zunehmend. Es brach auch keine Panik mehr aus, wenn sie einen Schuss abgab. Die meisten hatten es aufgegeben, vor den Kugeln zu fliehen, und versuchten stattdessen, ihr Leben dadurch zu retten, dass sie nicht auffielen.

      »Es befindet sich jetzt noch genau eine Person unter uns, bei der es ausgeschlossen ist, dass sie diesen Raum unbeschadet verlässt.«

      Sie stand auf und kehrte ihre Überheblichkeit vollständig nach außen.

      »Haben wir uns etwas vorzuwerfen, Kollege?«

      Sie stützte die Arme auf den Tisch des Polizeichefs und suchte in seinem Blick eine Unsicherheit, die ihn verraten könnte.

      »Nein, abgesehen davon, dass ich mich mit jemandem im gleichen Raum befinde, der eine Vernichtungsaktion plant, die dem Holocaust in nichts nachsteht.«

      Überrascht von der Unverfrorenheit des Mannes bebte der Busen der Staatssekretärin.

      »Na los, kommen Sie! Erschießen Sie mich«, ließ er nicht locker.

      »Sie wollen mich provozieren?! Gut, dann lassen Sie uns das für einen Moment unterbrechen.« Sie legte die Pistole neben sich. »Keine Waffen, nur Argumente. In Ordnung?«

      Der Polizeichef nickte.

      »Wer von Ihnen hat Erinnerung an den Holocaust?«, fragte die Staatssekretärin. »Wer hat ihn miterlebt? Wohl keiner, da er hundert Jahre her ist. Damit bleibt nur noch das, was in Geschichtsbüchern steht, ja? Dann nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich mich nur von Dingen beeinflussen lasse, die ich selbst erlebt habe. Erinnern Sie sich nur an die Wiedervereinigung Deutschlands Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wurden in den ostdeutschen Büchern derart viele Fakten geändert, weil die neu gebildete Regierung plötzlich eine andere Sicht der Dinge hatte. Die Dokumentation der Vergangenheit ist immer nur eine Sichtweise des aktuell herrschenden Systems und genau darum werden Sie von mir keine Verbindung der heutigen Ereignisse zum Dritten Reich hören.«

      »Sie leugnen den Holocaust?«

      »ICH LEUGNE ÜBERHAUPT NICHTS«, brüllte sie. »Aber was damals wirklich passiert ist, weiß niemand hier im Raum.«

      Der Protest im Saal nahm zu.

      »UND DAVON ABGESEHEN«, verschaffte sich die Staatssekretärin Gehör, »planen wir mit der Bildung der Kolonie keinen Völkermord. Es ist kein Volk, das wir ausschließen.«

      »Sagen Sie lieber auslöschen«, fiel ihr der Polizeichef ins Wort, obwohl er sah, wie sie die Waffe wieder in die Hand genommen hatte.

      »Wir überlassen lediglich dem von Gott bereits durch Krankheit abgespaltenen Rest der Menschheit seinem Schicksal.«

      »Sie sprechen von einem Gott?«

      »Ich spreche von meinem Gott!«

      »Heißt es nicht: Wer seinen Nächsten verachtet, versündigt sich, aber wohl dem, der sich der Elenden erbarmt? Wie können wir da den Großteil der Bevölkerung dem Schicksal überlassen?«

      »Sie meinen den gottlosen Rest vor den Toren?«

      »Es sind doch nicht nur Ungläubige dort draußen!«

      »WAS WOLLEN SIE EIGENTLICH? WOLLEN SIE GAR NICHTS TUN, BIS ES UNSERE GATTUNG NICHT MEHR GIBT?«

      »Vielleicht. Vielleicht haben wir die Daseinsberechtigung tatsächlich verwirkt. Wie viele Chancen soll man uns denn noch geben«, entgegnete der Polizeichef. »Dürfen wir das Leben von Millionen opfern, damit Tausende weiterleben? Kein Verfassungsgericht der Welt würde dem zustimmen.«

      »Soll ich Ihnen was sagen?! Ich scheiße auf die Gerichte! Und ich pfeife auf Ihre Meinung. Ich will wissen, wer unter Ihnen noch etwas zu verbergen hat. Sie offensichtlich nicht, Sie gehen mir nur auf den Geist. Aber vielleicht Ihr Nachbar?!«

      Langsam sah sie zur Person rechts daneben und kam bis auf wenige Zentimeter an das Gesicht des Verteidigungsministers heran.

      »Friedemann«, flüsterte sie. »Sorge dafür, dass sich der Anfangsverdacht, den wir gegen dich haben, nicht bestätigt. Und sei froh, dass es auf höchster Ebene jemanden gibt, der der Ansicht ist, dass wir dich noch brauchen. Diese Säuberungsaktion heute könnt ihr alle von nun an als Teil der Regierungsarbeit ansehen. So etwas wird es sofort wieder geben, sobald einer der Anwesenden nicht begreift, dass es nur um eines geht – um das Überleben. Und wir überleben ausschließlich mit Theodizee.«

      Augenblicke später durchschlug ein Geschoss die Hand des Ministers und die darunterliegende Tischplatte.

      4

      »Alle da?«

      Ohne es zu überprüfen, setzte der Lehrer die Führung fort. Er registrierte nicht, dass Liam seit dem Morgen kaum ein Wort gesprochen hatte und immer weiter von der Gruppe zurückfiel.

      »Wie vorhin angedeutet befinden wir uns bei diesem Rundgang jetzt im Jahr 2023 bei einem Anschlag ganz anderer Dimension. Das, was ihr nun sehen werdet, hat es so noch nie gegeben. Nicht mal ansatzweise.«

      Vor den Jugendlichen offenbarte sich eine riesige Videoinstallation mit einem Landstrich, der in einer Art dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie es einem dritten Weltkrieg gleichkam.

      »Dies hier ist das größte Täuschungsmanöver der Geschichte. Den Auslöser für die Katastrophe seht ihr zur Rechten.«

      Er wies auf einen Torbogen zu einer Nebenhalle, welche komplett mit Blei ausgekleidet war und durch eine zentimeterdicke Glasscheibe von den Besuchern getrennt war. Darin stand der bis zur Unkenntlichkeit verformte Rest eines Geschützes, hergestellt in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Waffensystem erweckte den Eindruck, als wäre es kurzzeitig Tausenden von Grad ausgesetzt gewesen und einen Augenblick später sofort erstarrt.

      »Mit dieser Artilleriewaffe schuf die ATG die Bühne, die sie brauchte, um die gesamte Welt für zwei Tage in die Irre zu führen.«

      »Die Informantensache?«, fragte einer der Jungen.

      »Florian, ich bin überrascht. Du bist nicht nur anwesend, du denkst ja sogar mit. Dreh- und Angelpunkt war tatsächlich ein skandinavischer Informant. Am Vorabend der Atomkatastrophe reiste dieser – hinter euch im Schaukasten seht ihr ein Foto – mit einem offensichtlich vom schwedischen Ministerpräsidenten unterzeichneten Brief nach Brüssel. Er kündigte an, dass sämtliche militärischen Provokationen von da an mit atomaren Reaktionen beantwortet werden sollten. Ein Dokument, welches in Kombination mit den Ereignissen der nachfolgenden Stunden zu einer verheerenden politischen Kurzschlussreaktion führte. Zwei Tage später wurde durch den Selbstmord des Informanten klar, dass er seit Jahren in engem Kontakt mit der ATG stand und das Schreiben gefälscht war.«

      »Hätte man nicht einfach mit Schweden telefonieren und die Sache klären können?«, fragte einer der Jugendlichen.

      »Richtig! Eigentlich hätte man sogar unbedingt miteinander reden müssen. Aber genau das war damals das größte Problem. Eine Falschmeldung folgte der nächsten. Kaum eine Nation hatte noch den Überblick, auf welche Informationen sie sich verlassen konnte. Täglich kochten Nachrichten von Grenzübertritten, Angriffen, bis hin zu einzelnen Hinrichtungen über und wurden minutenschnell durch Social Bots im Netz verbreitet.«

      »Ich kann mir das nicht vorstellen. Regierungen haben Geheimdienste und die wissen, welche Meldungen wahr und welche falsch sind«, sagte Sveda. »Es ist doch egal, was für ein Quatsch in den Communitys geschrieben wird.«

      »Das Problem ist nicht klar? Okay. Ein Beispiel. Eine Familie, die Angehörige verloren hat, postet im Netz die unwahre Meldung, dass ihr minderjähriger Sohn und dessen Mutter