DAS THEODIZEE-PROBLEM. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658753
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vor ihnen befanden, und traten jeden Unterlegenen nieder, nur um lebendig den Ausgang zu erreichen.

      Das was sich die dreißig Personen in den Sekunden nach dem Auswerfen der Patronenhülse antaten, überstieg in der Summe das Leid, welches der Schuss verursacht hatte.

      Gib den Menschen zu wenig Raum und Todesangst und du benötigst wahrscheinlich nicht einmal eine Waffe, lächelte die Staatssekretärin und strich über die Konturen ihres Kreuzanhängers.

      Schreiend näherte sich der Bundestagspräsident als Erster einem der Ausgänge. Den Schmerz des ausgekugelten und unnatürlich verdrehten Arms spürte er nicht.

       Gleich. Nur ein paar Schritte!

      Ein Mann, der ihm direkt folgte, packte ihn an der Schulter und versuchte, ihn an sich vorbeizuziehen. Jede Person, die hinter einem stand, wäre ein Schutz vor den Kugeln, die noch im Magazin der Staatssekretärin steckten.

      Panisch riss der Präsident den unverletzten Ellenbogen nach hinten und traf krachend ein Jochbein. Bevor der Getroffene von den Nachfolgenden überrannt werden konnte, schoss ihm ein Blutschwall aus der Nase.

      Der Bundestagspräsident kam völlig atemlos an der zweiflügligen Eichentür an und rüttelte an den Griffen.

      Nichts passierte.

      Andere hetzten zum zweiten und dritten Ausgang. Auch diese ließen sich nicht öffnen.

      Die Schreie aus der Menge, die vor Angst gelähmt schien, verstummten.

      »Kollegen!«, rief die Staatssekretärin durch den Raum und stieg vom Pult herab. »Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder! Das ist doch kein Grund, den Verstand zu verlieren.«

      »Sind sie völlig wahnsinnig?«, brüllte ein Mann, der auf sie zu rannte.

      Ein Schuss in den Hals erübrigte jede Antwort.

      »Folgende Spielregeln!«

      Ihre Laune verschlechterte sich.

      »Wir haben ein Problem und wir müssen es verdammt noch mal lösen. Und am besten lösen wir Probleme, wenn wir Ruhe bewahren. Sie werden es kaum glauben, aber sobald Sie wieder Platz nehmen, hat der überwiegende Teil von Ihnen eine erhebliche Überlebenschance. Das gilt jedoch höchstwahrscheinlich nicht für die, die da hinten unter die Tische gekrochen sind. Bei so wenig Rückgrat bin ich geneigt, einen Schuss in den Bauch zu setzen – deutlich unangenehmer, als ein gut platzierter Kopftreffer.«

      Keiner der Anwesenden zeigte eine Regung.

      Die Staatssekretärin ging zur Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages und setzte ihr die Pistole auf die Brust.

      »Ich warte!«

      In Schockstarre folgte noch immer niemand ihrer Anweisung.

       Eins, zwei, drei!

      Sie drückte ab.

      Die Frau sackte in sich zusammen.

      »Ich kann den heutigen Tagesordnungspunkt auch auf diese Weise klären und sämtliche Magazine aufbrauchen. Anschließend besetzen wir einfach Ihre Posten neu. Meiner Ansicht nach die beste Lösung, zumal wir damit als positiven Nebeneffekt auch gleich eine Menge Gottesleugner beseitigen werden. Aber«, sie zuckte mit den Schultern, »der Kanzler wollte, dass wir uns heute hier zusammenfinden und darüber reden. Ist das jetzt bei jedem angekommen?«

      Ruhig schob sie den Hintern auf einen Tisch in der vordersten Reihe und wies mit der Waffe auf die vor sich befindlichen Sitze.

      »Ich habe keine Eile. Ich fahre erst fort, wenn Sie wieder wie zivilisierte Menschen Platz nehmen.«

      Zögerlich kamen der Generalinspekteur der Streitkräfte und zwei Minister in ihre Richtung und sorgten dafür, dass nach und nach auch der Rest der Anwesenden ihrer Anweisung folgte.

      »Also zurück zum Kern. Ich erwähnte bereits, dass wir einer nicht unerheblichen Verantwortung unterliegen, indem wir entscheiden, was gut und was schlecht für das Volk ist. In schwierigen Zeiten, so wie diesen, kann das bedeuten, dass wir etwas durchsetzen, von dem die Bevölkerung erst viel später erkennt, dass es das Richtige war. Sehen Sie das genauso?«

      Niemand antwortete.

      »Die Bürger wissen oft nicht, was sie wollen. Sie sind leicht lenkbar. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir für sie entscheiden. Auch abseits der Gesetze, falls es nötig ist. Sie alle wissen, ich bin kein Freund der direkten Demokratie. Das war ich noch nie und werde es auch niemals sein. Stellen Sie sich vor, wir hätten in diesen Zeiten ständig Volksentscheide statt parlamentarischer Entscheidungen. Ein solches System kann nur in einer Katastrophe enden. Allein schon, wenn ich mir ansehe, wer in der Bevölkerung zu alternativ für eine rationale Entscheidung ist oder zu weit rechts oder schlicht und ergreifend zu blöd. Und da haben wir noch nicht mal die berücksichtigt, die grundsätzlich jeden Politiker hassen und die, die zu alt sind, um komplexere Zusammenhänge zu begreifen. Nehmen wir dieses Gesindel in der Summe, dann haben wir bereits eine Mehrheit, die jeglichen sinnvollen Volksentscheid blockiert, und es wurde noch nicht einmal ein Wort über die Ungläubigen verloren. Ich erinnere nur an die Flüchtlingsströme im dritten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Vor lauter Übergriffen und ›No Asyl‹-Geschreie war es nicht möglich, der Bevölkerung deutlich zu machen, dass dies unser Geburtenproblem hätte lösen können. Langfristig wäre die Rettung für das Rentensystem und vielleicht sogar für die Krankenversicherung realistisch gewesen. Ich weiß nicht, welcher Idiot damals auf die Schnapsidee kam, die Flüchtlingsfrage europaweit auf nationaler Ebene mittels Volksentscheiden klären zu lassen. Natürlich war der Ausgang klar und Europa wenig später die reinste Festung. Aber, meine Damen und Herren, DIESE OPFER WAREN NICHT UMSONST«, rief die Staatssekretärin viel zu laut in den Saal. »Seitdem Unzählige vor unseren Grenzen durch diese Entscheidungen verreckt sind, ist die direkte Demokratie ein Relikt der politischen Vergangenheit, welches hoffentlich niemand mehr ernsthaft aus dem Hut ziehen wird. Doch nicht nur das. Wer noch ein Stück weiter denkt, muss feststellen, dass auch die repräsentative Demokratie einen Makel hat, den wir heute beseitigen werden.«

      Sie hielt die Waffe mit gestrecktem Arm und zielte wahllos auf die vor sich Sitzenden.

      »Die Operation Theodizee ist überlebenswichtig! Und so wie es Schwachköpfe im Volk gibt, die das nicht begreifen, haben wir auch unter Ihnen, meine Damen und Herren, nicht nur Hochbegabte.«

      Bei jedem, den Kimme und Korn streifte, schoss der Blutdruck in die Höhe, obwohl die Staatssekretärin den Abzug zu diesem Zeitpunkt nicht berührte.

      Das ist also die politische Elite des Landes, dachte sie abfällig und beobachtete, wie sich die wegduckten, auf die der Lauf zeigte.

      »Dieses Vorhaben wird im Großteil Europas umgesetzt«, fuhr sie fort. »Bis auf Polen. Da warten wir täglich darauf, dass die Regierung den Schwanz einzieht. Nicht anders zu erwarten!«

      Sie zog die Augenbrauen zusammen.

      »Und wie wir gestern erfahren mussten, liebe Kollegen, gibt es unter Ihnen Personen, die Kontakt zu den Kräften haben, die in unserem Nachbarland die Sache zum Scheitern bringen werden. Da frag ich mich natürlich, warum der Bundesnachrichtendienst dem Kanzler das nicht mitteilt, sondern wir andere Kanäle brauchen, um davon Kenntnis zu erlangen.«

      »Scheiße! Scheiße! SCHEEIISSSSEEE!«, kreischte ein Mann mit Halbglatze auf der linken Seite. Hysterisch versuchte der Chef des Geheimdienstes, unter seinen Tisch zu kriechen.

      Ohne eine Regung in ihrem Gesicht erkennen zu lassen, richtete die Staatssekretärin die Mündung auf ihn. Sie krümmte den Zeigefinger und riss die Waffe, kurz bevor sie den Druckpunkt des Abzugs überschritt, nach oben.

      Der Schuss löste sich und trieb den Schlitten der Pistole zurück. Beinahe im selben Augenblick rastete er wieder in die Ausgangsstellung ein und wartete mit der nächsten Patrone in der Kammer.

      »BERUHIGEN SIE SICH!«, schrie sie den Geheimdienstchef an, dessen Angst allgegenwärtig war,