Luramos - Der letzte Drache. Carina Zacharias. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carina Zacharias
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960743767
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fast noch schlimmer war, dass ihr das alles erst jetzt klar wurde. Am Vortag hatte sie die Blicke und das Flüstern zwar wahrgenommen, doch sie hatte sich nicht darum gekümmert. Sie war so berauscht gewesen von ihrem Glücksgefühl, dass es überhaupt nicht richtig bis in ihr Bewusstsein gedrungen war. Doch wo war dieses Glücksgefühl jetzt? Die Zuversicht, die sie gestern noch verspürt hatte, war verschwunden und hatte nur einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

      Ralea griff unter ihr Leinenhemd und holte den Elfenstein hervor, den sie die ganze Nacht über um den Hals getragen hatte. Jetzt leuchtete er zwar nicht mehr, doch war sein Blau trotzdem immer noch wunderschön.

      War er etwa verantwortlich für ihre gestrige Gehirnwäsche? Denn nichts anderes war es doch gewesen! Auf einmal hatte er sein merkwürdiges Licht verstrahlt und sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie diese Reise antreten musste. Doch andererseits war es immer noch ein Stein. Natürlich kein gewöhnlicher, aber trotzdem konnte er doch gewiss nicht selbstständig denken oder handeln. Vielleicht war es einfach die in ihm gespeicherte Elfenmagie, die ihr nicht bekam.

      Doch warum legte sie ihn dann – jetzt, wo ihr dies alles klar geworden war – immer noch nicht ab?

      Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab, sie steckte den Elfenstein wieder unter ihr Hemd und stand auf, um nicht länger darüber grübeln zu müssen. Das half nun schließlich sowieso nichts mehr. Ihre Entscheidung war gefallen. Ihr Vater war überglücklich gewesen und selbst die misstrauischen Mienen der anderen Leute hatten ihn nicht davon abbringen können, stolz zu grinsen und ihr auf dem Nachhauseweg einen Arm um die Schultern zu legen.

      Er hatte es ihr gegenüber nie erwähnt und sich bemüht, es sie nicht spüren zu lassen, doch Ralea wusste, dass er sich insgeheim immer einen Sohn gewünscht hatte. Nach ihrer Geburt war ihre Mutter noch viele Male schwanger gewesen, doch hatte sie jedes Mal eine Fehlgeburt gehabt. Das hatte ihre Eltern stark mitgenommen und ohne ihre Tochter wären sie wahrscheinlich daran zugrunde gegangen. So bemühten sie sich umso mehr, Ralea ein glückliches Leben bereiten zu können, und sie von ganzem Herzen zu lieben. Aber trotzdem hatte Ralea immer das Gefühl gehabt, sie müsse so gut wie drei Kinder auf einmal sein. Als sie jetzt die Freude und den Stolz ihres Vaters gesehen hatte, glaubte sie zum ersten Mal, dass es ihr vielleicht sogar gelungen war. Dass sie vielleicht genau so gut war wie der Sohn, den sich er sich immer gewünscht hatte. Ralea klammerte sich an diesen Gedanken, als sie die Tür öffnete und langsam die knarrenden Stufen der schmalen Treppe nach unten stieg.

      Dumm nur, dass ihre Mutter völlig anders reagiert hatte als ihr Vater. Sie hatte Ralea fassungslos angesehen und ihre Augen hatten geglänzt vor zurückgehaltenen Tränen. Unter dem Einfluss der Elfenmagie hatte Ralea keinen Blick dafür gehabt, doch nun plagten sie schreckliche Schuldgefühle und Gewissensbisse. Wie gern würde sie ihr die Wahrheit sagen: Dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte und schreckliche Angst hatte fortzugehen. Doch was würde das bringen? Es würde alles nur noch schlimmer, nur noch schwerer machen.

      Als sie am Fuß der Treppe angelangt war, stand sie in einem einfachen Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Ihre Eltern saßen am Tisch und schienen sich eben noch angeregt unterhalten zu haben. Nun blickten sie jedoch Ralea an und ihre Mutter sagte: „Guten Morgen, Schatz. Hast du Hunger?“ Ralea schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihnen. Sie sahen beide müde und erschöpft aus. Wahrscheinlich hatten sie am Abend noch lange diskutiert. Sie meinte sogar, dass ihr Vater gar nicht mehr so zuversichtlich aussah, wie gestern noch. Doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.

      Ihre Mutter gab den Versuch nicht auf so zu tun, als wäre das ein ganz normaler Tag. „Wie hast du geschlafen?“, fragte sie.

      „Ganz gut“, antwortete Ralea. Das war die Wahrheit, doch nun fühlte sie sich fast ein bisschen schuldig deswegen, da ihre Eltern wahrscheinlich nicht viel Schlaf bekommen hatten. Gerade wollte ihre Mutter noch etwas sagen, da klopfte es an der Tür. Das Lächeln, das sie bis dahin so tapfer aufrecht erhalten hatte, verrutschte nun vollends zu einer Grimasse. Ralea konnte förmlich sehen, wie ihre Mutter ihre vergeblichen Bemühungen aufgab, als Morgana ungebeten den Raum betrat.

      Die alte Frau nickte ihnen höflich zu und schloss die Tür hinter sich. Raleas Vater murmelte einen Gruß, doch ihre Mutter presste nur die Lippen aufeinander und schaute auf ihre Hände.

      Wie es Morganas Art war, redete sie nicht lange um den heißen Brei herum. „Ich denke, es ist am besten, wenn wir wieder unter zwei Augen miteinander reden, Ralea.“

      „Ach, denkst du?“ Die Stimme von Raleas Mutter durchschnitt die Luft wie ein Peitschenhieb. „Ich denke, Merdrid und ich haben genau so ein Recht darauf zu hören, was du zu sagen hast.“ Sie sah Morgana mit zornesfunkelnden Augen an. „Es geht immerhin um unsere Tochter“, fügte sie noch hinzu.

      Morgana hielt ihrem Blick mühelos stand. Ralea fand es ziemlich ungerecht von ihrer Mutter, dass sie der Geschichtenerzählerin scheinbar die Schuld für das Ganze gab. Doch diese nickte nur langsam und sagte ruhig: „Wahrscheinlich hast du recht. Verzeiht mir.“ Die Alte stützte sich schwer auf ihren Gehstock, während sie an den Tisch trat. Ralea sah, dass das an einem Beutel lag, den sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Diesen stellte sie nun auf den Boden und ließ sich leise ächzend auf einen freien Stuhl fallen.

      „Da ist dein Proviant drin“, erklärte sie auf Raleas neugierige Blicke hin, mit denen sie den ledernen Beutel taxiert hatte.

      „Was denn für Proviant?“, fragte Ralea.

      „Ein Laib Brot, Dörrfleisch, getrocknetes Obst, Gemüse und Wasser. Teil es dir gut ein. Das Wasser sollte reichen, bis du zum Fluss kommst. Dort kannst du dir die Flaschen neu auffüllen. Bedenke, dass dann der vermutlich schwierigste Teil deiner Reise kommt: die Drachentod-Wüste! Solange du kannst, solltest du dich im Wald von Beeren, Pilzen und Nüssen ernähren. Du weißt doch, was du essen darfst und was nicht?“

      Ralea nickte. Selbstverständlich wusste sie das. Die Dorfkinder lernten schon früh, was giftig war und was nicht, um in der näheren Umgebung des Dorfes Beeren und Pilze zu sammeln.

      „Das ist ja alles schön und gut“, sagte Raleas Mutter mit kritischer Miene, die genau das Gegenteil ihrer Worte zu sagen schien, „aber wie soll sie den Weg finden? Woher soll sie wissen, in welche Richtung sie gehen muss?“

      Morgana nickte bedächtig. „Das wird kein Problem sein. Der Elfenstein wird ihr den Weg weisen.“

      „Der Elfenstein?“ Nun war es Raleas Vater, der fragte. „Und wie wird er das machen?“

      „Tut mir leid, aber das kann ich euch nicht beantworten. Ich weiß auch nur, was in dem Vertrag unserer Urahnen geschrieben steht.“ Raleas Mutter stieß missbilligend die Luft aus, doch Morgana ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah Ralea an und fragte: „Hast du noch Fragen, Kind?“

      Ralea nickte. Und ob sie das hatte! „Wie soll ich Luramos einschläfern? In der Geschichte wird gesagt, dass Koras magische Worte spricht, um den Drachen zu verzaubern.“ Ralea dachte auch an die detailliertere Version der Geschichte, die Morgana erzählt hatte. Dabei hatte sie den Kampf mit dem Drachen und Koras’ mutige Heldentat ganz genau beschrieben. Wenigstens würde Luramos noch schlafen, wenn sie zu ihm kommen würde. Sie brauchte nur den Zauber wieder aufzufrischen. Es sei denn, der Zauber verlor früher als gedacht seine Wirkung ... doch daran wollte sie lieber nicht denken.

      Morgana nickte wieder und antwortete: „In dem Vertrag, den die drei Völker Romaniens nach dem Sieg über Luramos verfasst haben, steht geschrieben, dass der Stein nur an die Schläfe des Drachen gehalten werden muss. Die Magie in ihm wird wissen, was zu tun ist, da der Stein seinen eigenen Zauber erkennen wird.“

      Ralea unterdrückte ein Schaudern. Ihr Unwohlsein lag nicht nur daran, dass sie dem Drachen also verdammt nahe kommen musste. Morganas Worte erinnerten sie auch an ihre Überlegungen von vorhin, ob der Stein wohl denken und handeln konnte wie ein selbstständiges Wesen.

      „Da ist noch etwas Wichtiges“, sagte Morgana. „Luramos liegt in einer Höhle, die Bestandteil einer Felsformation ist. Merke dir genau den