Luramos - Der letzte Drache. Carina Zacharias. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carina Zacharias
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960743767
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stieß einen erstickten Schrei aus, sprang hastig auf die Füße und wirbelte herum.

      Hinter ihr stand ein junger Baumling, der sie besorgt musterte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“, sagte er schnell und lächelte schief.

      Ralea wischte sich mit dem Handrücken notdürftig über die tränennassen Wangen. „Da...das macht doch nichts“, sagte sie mit schwacher Stimme.

      Nachdem der erste Schock vorüber war und sie wieder klar denken konnte, musterte sie ihr Gegenüber genauer. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht viele Baumlinge gesehen. Sie lebten für gewöhnlich tief in den Wäldern und zeigten sich den Menschen nur bei den seltenen Tauschgeschäften, die sie untereinander führten. Dabei brachten die Baumlinge Früchte oder erlegte Tiere mit, die es nur in den nördlicheren Wäldern gab, und erhielten dafür Kleidung oder Pflanzen, die die Menschen auf den kleinen Feldern, die sie dem Wald abgerungen hatten, anbauten.

      Der Baumling, der nun vor ihr stand, war fast einen Kopf größer als sie, doch Ralea schätzte, dass er ungefähr ihr Alter hatte. Er war schlank und drahtig, wie alle Baumlinge, und alles an ihm war grün: die Iris seiner Augen, seine Haare, die er zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und sogar seine Haut und seine langen spitzen Ohren. Nur seine Kleidung und Stiefel ähnelten der von Ralea – mit der Ausnahme, dass er eine Hose trug und keinen Rock. Gut möglich, dass er sie von den Menschen erworben hatte. Über seiner Schulter hing ein Köcher, in dem noch etwa ein halbes Dutzend dünner gefiederter Pfeile steckte, und in der Hand hielt er einen kleinen, schlichten, aber eleganten Bogen.

      Ralea war so eingenommen von seinem fremdartigen Äußeren, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, dass er sie ebenso neugierig und unverhohlen musterte wie sie ihn. Beschämt schlug sie die Augen nieder.

      Auch er räusperte sich etwas verlegen und sagte dann: „Ich sollte mich wohl erst mal vorstellen: Mein Name ist Tajo.“

      „Ich bin Ralea“, sagte Ralea. „Du sprichst meine Sprache?“, fragte sie schließlich schüchtern.

      Der Baumling nickte stolz. „Die hat mein Vater mir von klein auf beigebracht. Er führt die Tauschgeschäfte mit den Menschen und möchte, dass ich diese Aufgabe einmal übernehme.“

      Ralea nickte beeindruckt. Tatsächlich sprach er einwandfrei und hatte nur einen schwachen Akzent, der auf die kehlige Sprache der Baumlinge hinwies. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf das tote Monster, das am Ende der Lichtung lag. Ein Schauer durchfuhr sie. Tajo hatte ihre Reaktion wahrscheinlich bemerkt, denn er drehte sich um und folgte ihrem Blick.

      „Was ist das für eine Kreatur?“, flüsterte Ralea angewidert. Und dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke und die Angst kroch wieder in ihr hoch. „Und was, wenn die anderen zurückkommen?“

      Tajo schüttelte den Kopf und ging langsam auf die Leiche zu. Ralea folgte ihm zögernd, während er sagte: „Ich habe so etwas zwar noch nie in meinem Leben gesehen, aber ich glaube, dass ich Geschichten darüber gehört habe. Bei uns Baumlingen erzählt man sich gerne Geschichten und in einigen ist von Gnomen die Rede, die angeblich in den Bergen leben. Sie wurden genau so beschrieben, wie dieses Wesen hier aussieht. Ihr Charakter soll ihrem Äußeren übrigens in nichts nachstehen. Angeblich sind sie gerissen und falsch, nicht besonders intelligent und brutal. Aber sie sollen auch ängstlich sein und ihr eigenes Leben über alles andere stellen. Ich glaube nicht, dass sie noch einmal wiederkommen werden. Ich frage mich nur, was sie hier im Wald wollten.“ Er war mittlerweile vor dem toten Gnom stehen geblieben und schielte nun zu Ralea hinüber, die in einigem Abstand hinter ihm stand. „Was ich mich bei dir übrigens auch frage. Was macht ein Menschenmädchen so weit ab von der Heimat? So weit ich weiß, entfernt ihr Menschen euch doch sonst nie weiter als zehn Meter von eurem Dörfchen.“

      Ralea ärgerte sich über seinen spöttischen Ton. Was vielleicht auch ganz gut war, denn es hinderte sie daran, ihm alles zu erzählen, ihm ihr ganzes Herz auszuschütten – und vermutlich wieder in Tränen auszubrechen. So tröstlich seine Anwesenheit auch war, sie durfte nicht zu gutgläubig sein. Dieser grauenhafte Überfall der Gnome hatte doch gezeigt: Sie musste überaus vorsichtig sein, wollte sie ihre Mission nicht gefährden. Also zuckte sie die Schultern und sagte: „Dann weißt du anscheinend nicht viel über die Menschen.“

      Tajo zog zweifelnd eine Augenbraue hoch – was sie großzügig übersah –, drehte sich dann plötzlich um und bückte sich. Die Bewegung war so schnell, dass Ralea sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. Auf einmal stand er wieder genauso da wie vorher, nur dass er in der rechten Hand seinen Pfeil hielt, von dem zähes, schwarzes Blut tropfte. Übelkeit stieg in Ralea hoch und sie wandte sich angewidert ab.

      Der Baumling ließ sich davon nicht stören. Er wischte den Pfeil so gründlich wie möglich am Gras und an den umstehenden Büschen ab und machte sich dann daran, die restlichen Pfeile aus den Bäumen zu ziehen. Ralea beobachtete ihn schweigend und überlegte, wie viel sie ihm wohl sagen konnte. Eigentlich hatte doch niemand erwähnt, dass sie ihr Vorhaben geheim halten musste, oder? Sie bemerkte, wie sie – mehr oder weniger gegen ihren Willen – begann diesen Baumling zu mögen. Doch war das verwunderlich? In ihrer Situation hätte sie sogar den Dorfobersten gemocht, wenn er ihr über den Weg gelaufen wäre. Schon deshalb, weil sie dann nicht länger so allein gewesen wäre.

      Nachdem Tajo alle seine Pfeile eingesammelt hatte, kam er zu ihr geschlendert und sagte frei heraus: „Na schön, ich gebe zu, ich habe dich angeflunkert. Ich weiß genau, weswegen du allein im Wald unterwegs bist.“ Ralea klappte die Kinnlade herunter, was er mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel registrierte. „Du bist die Auserwählte!“, hauchte er verschwörerisch.

      Ralea gab sich Mühe, nicht allzu überrascht zu wirken. „Ach ja?“, fragte sie betont lässig. „Und woher weißt du das, wenn ich fragen darf?“

      „Ich hab dich beobachtet.“

      „Verfolgt meinst du wohl.“ Der Gedanke, dass er ihr die ganze Zeit über nahe gewesen war, gefiel Ralea überhaupt nicht. Sie dachte daran, wie sie auf den Elfenstein eingeredet hatte, und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

      Tajo schien das zum Glück nicht zu bemerken. Und wenn doch, dann besaß er so viel Taktgefühl, es nicht zu zeigen. Tatsächlich wirkte er ein wenig schuldbewusst. Allerdings nur kurz. Dann erwiderte er trotzig: „Eigentlich solltest du mir dankbar sein. Ich habe dir immerhin gerade das Leben gerettet!“

      Nun war es an Ralea, schuldbewusst zu sein. „Vielen Dank“, murmelte sie beschämt.

      „Gern geschehen!“, grinste Tajo.

      „Jetzt, wo wir geklärt haben, warum ich hier allein durch die Gegend laufe“, sagte Ralea, „würde mich noch interessieren, was du hier machst. Ich dachte, ihr Baumlinge lebt viel tiefer in den Wäldern?“

      „Wie gesagt: Ich habe dich beobachtet.“ Er schaute Ralea ohne Anzeichen von Scham in die Augen.

      Diese wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. „Ja ... und ... warum?!“, stammelte sie schließlich.

      „Weil du einen Beschützer brauchst!“

      „Einen Beschützer?!“

      „Allerdings!“

      „Das glaub ich kaum!“

      „Ach, und was war dann das hier?“ Er wies mit dem Zeigefinger auf den toten Gnom, der immer noch hinter Ralea am Boden lag.

      „Bloß ein paar ... kleinere Schwierigkeiten. Damit wäre ich auch ohne dich klargekommen.“

      „Sicher!“ Er verdrehte die Augen.

      Ralea wusste selbst nicht richtig, warum sie ihn so offensichtlich anlog. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht eingestehen wollte, wie froh sie sich gefühlt hatte, als er sich als ihr Beschützer vorgestellt hatte. Wie schön wäre es, mit jemandem zusammen auf diese Reise gehen zu können! Doch sie wusste, dass das unmöglich war. Was für eine Schande für sie und alle Menschen, wenn selbst die vom Elfenstein Auserwählte