Luramos - Der letzte Drache. Carina Zacharias. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carina Zacharias
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960743767
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Eltern standen unverändert da und lächelten ihr zu.

      Ralea formte mit den Lippen die Worte: „Ich hab euch lieb!“ Dann öffnete sie die Tür, trat nach draußen und schloss sie hinter sich mit der gleichen schnellen und endgültigen Bewegung.

      Die Straße war zum Glück menschenleer. Nur Morgana lehnte an der Hauswand neben der Tür und sah sie erwartungsvoll an. „Können wir?“ Ralea atmete einmal tief ein und aus. Dann nickte sie und folgte Morgana ein wenig widerstrebend.

      Wo waren bloß all die Leute? Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Doch Ralea sollte es recht sein. So konnte sie sich alles noch einmal genau anschauen und einprägen. Und bei jedem Haus, an dem sie vorbeikamen, und jedem Weg, den sie verließen, zog sich ihre Kehle etwas fester zusammen. Ob sie das alles jemals wieder sehen würde? Selbst, wenn sie keine Feinde erwarten würden, so wie ihr Vater es prophezeit hatte, war der Weg durch die Drachentod-Wüste beschwerlich und niemand hatte ihn bisher gewagt.

      Morgana, die trotz ihres Gehstocks erstaunlich flink auf den Beinen war, steuerte auf den Waldrand hinter dem Marktplatz zu. Und nun kamen auch die ersten Menschen in Sicht. Sie standen am Wegrand und lächelten ihr zu. Viele riefen ihr Glückwünsche zu oder steckten ihr sogar etwas zu essen zu.

      Ralea war überwältigt. Was für eine Überredungskünstlerin Morgana doch war! Obwohl sie das eigentlich nicht wundern durfte, war sie doch so geschickt, wenn es darum ging, ihre Worte zu den schönsten Geschichten zu spinnen. Beim Anblick der begeisterten Menschenmenge breitete sich ein erleichtertes und dankbares Lächeln auf Raleas Gesicht aus. Sie war so damit beschäftigt, sich zu bedanken und ausgestreckte Hände zu schütteln, dass sie erst bemerkte, dass Morgana stehen geblieben war, als sie schon fast gegen sie stolperte. Sie sah auf und erblickte die Bäume. Sie waren am Dorfrand angekommen. Hier gingen die Häuser nahtlos in den Wald über. Ralea merkte, wie sich ihre Kehle von Neuem zuzog.

      „Ralea!“

      Ralea drehte sich um und sah sich dem Dorfobersten gegenüber. Unwillen breitete sich in ihr aus. Sie hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt, deshalb war sie nun ein wenig verwirrt, dass er sich so um sie bemühte. Er räusperte sich und wartete, bis die Menschen um ihn herum einigermaßen ruhig waren. Dann sagte er: „Wir haben uns alle hier versammelt, um dich zu verabschieden. Wir wünschen dir alles Gute auf deinem Weg. Mögen die Götter über dich wachen und mögest du ruhmreich zu uns zurückkehren!“

      Ralea starrte ihn an. Das war es also? „Ich ... ich kann noch nicht gehen“, krächzte sie.

      Der Dorfoberste wirkte verärgert. „Was ist denn noch?“, fragte er ungeduldig.

       „Ich habe mich noch nicht von meiner Freundin verabschiedet“, erklärte Ralea kleinlaut. Auf dem ganzen Weg hatte sie Ausschau nach Lora gehalten, doch sie hatte sie nicht entdecken können. Vielleicht war sie ja da gewesen, aber die anderen Leute hatten sie verdeckt? Vielleicht hatte sie ja nach Ralea gerufen, doch sie hatte ihre Stimme nicht von den anderen unterscheiden können? Diese Gedanken ließen Ralea innerlich zusammenzucken. Sie konnte auf keinen Fall gehen, ohne Lora noch einmal gesehen zu haben.

      Da drang eine Stimme zu ihr herüber: „Ralea! Ralea, warte!“

      Ralea wirbelte herum und sah, wie Lora atemlos den Weg entlanggelaufen kam. Vor Ralea blieb sie stehen und sagte mit gespielter Empörung: „Ich dachte schon, du wolltest gehen, ohne dich zu verabschieden!“

      Ralea grinste. „Und ich dachte, du würdest einmal in deinem Leben pünktlich sein!“

      Statt einer Antwort fiel Lora Ralea um den Hals. Endlich kamen die Tränen. Ralea lachte und weinte gleichzeitig. Sie wusste, dass alle Leute ihnen zusahen, doch es war ihr egal. In diesem Augenblick zählten nur sie beide. „Ich werde dich vermissen“, schluchzte Ralea in Loras blondes Haar.

      „Und ich werde dich vermissen!“ Auch Lora weinte bitterlich.

      So standen die Freundinnen eine ganze Weile in ihre eigene Welt versunken. Als sie sich schließlich voneinander lösten, wirkte der Dorfoberste schon ziemlich ungehalten vor Ungeduld.

      „Als ob es auf die paar Minuten ankommt“, dachte Ralea ärgerlich.

      „Pass auf dich auf!“, flüsterte Lora so leise, dass nur Ralea es hören konnte. Sie hielt immer noch die Hände der Freundin in den ihren.

      „Pass du auf dich auf!“, flüsterte Ralea zurück. Und nach einem kurzen Moment fügte sie hinzu: „Und auf meine Eltern!“

      Lora lächelte durch ihre tränennassen Wimpern hindurch. „Du schaffst das. Wenn es jemand schafft, dann du!“ Langsam und unendlich schmerzvoll lösten sich ihre Hände. Lora trat einen Schritt zurück und grinste tapfer. „Na, los! Du hast ein Land zu retten!“

      Ralea lachte. Wie schaffte Lora es nur, jeder Situation etwas Komisches abzuringen? Noch ein letztes Mal ließ sie die Augen über die Menschen schweifen, die zwischen den Häusern und auf den Straßen standen. Sie alle lächelten ihr zu. Es waren weitaus weniger als die Massen, die zu der Versammlung am Vortag erschienen waren, doch viel mehr, als Ralea vermutet hatte. Viele waren ihr völlig fremd, doch die meisten waren Bewohner ihres Dorfes, die Ralea seit ihrer Kindheit kannte. Der Dorfoberste wischte sich mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. Lora grinste immer noch, doch Ralea kannte sie gut genug, um die Wehmut in ihren Augen zu erahnen. Morganas Miene war wie immer unergründlich, aber in ihren Augen lag ein Funkeln, das Ralea nicht zuordnen konnte.

      Dann drehte Ralea sich um. Sie blendete alle Gedanken, alle Gefühle aus, während sie in den Wald ging. Sie schaute nicht zurück, auch nicht, als laute Abschiedsrufe hinter ihr erschallten. Mit jedem Schritt wurde der Wald dichter, die Stimmen leiser. Mit jedem Schritt entfernte sie sich weiter von ihrer Heimat und kam ihrer ungewissen Zukunft näher.

      *

      Beobachtet

      Mechanisch setzte Ralea einen Fuß vor den anderen, folgte einem schmalen ausgetretenen Pfad, der tiefer in den Wald führte. Erst als die letzten Rufe hinter ihr verklungen waren, drehte sie sich noch einmal um. Der Pfad hatte eine sanfte Kurve beschrieben, sodass sie keine Häuser mehr sehen konnte. Eine Welle der Mutlosigkeit und Verlorenheit ergriff sie. Was tat sie hier? Das alles war so schrecklich unwirklich. Schnell ging sie wieder weiter, damit sie sich nicht in ihrer Hilflosigkeit verlor oder gar auf den Gedanken kam, wieder umzukehren.

      Noch war der Wald ihr vertraut. Hier vorne auf diesen Baum war sie oft geklettert. Und hier auf der kleinen Lichtung hatten die Dorfjungen immer Schießwettbewerbe mit ihren selbst gebastelten Bogen veranstaltet. Auch Lora hatte oft mitgemacht – bis Limon ihr verboten hatte, seinen Bogen zu benutzen, weil sie so viel besser war als er. Ralea schmunzelte bei der Erinnerung an das beschämte und hochrote Gesicht von Loras großem Bruder.

      Sie selbst war auch oft hier entlang gegangen, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Doch nie allein, wie ihr jetzt klar wurde. Immer war sie mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen. Sie hatten sich dann ausgelassen unterhalten, hatten sich nie weit vom Dorf entfernt und waren lange vor dem Abend wieder zu Hause gewesen. Auch als sie klein gewesen war, war sie mit ihren Freunden hierher gekommen. Sie hatten Spiele erfunden, waren auf Bäume geklettert oder hatten eine Geschichte nachgespielt, die Morgana ihnen erzählt hatte. Wie oft hatte Ralea darum gebettelt und gekämpft, die Hauptrolle spielen zu dürfen – die des mutigen Helden. Was für eine Ironie, dass sie jetzt tatsächlich zu einem solchen Helden geworden war, in der Fortsetzung einer Geschichte, die Morgana ihnen immer und immer wieder erzählt hatte. Und nun wünschte sie sich von ganzem Herzen, diese Rolle an jemand anderen abtreten zu können.

      Plötzlich blieb Ralea alarmiert stehen. Sie war so in ihre Erinnerungen vertieft gewesen, dass sie überhaupt nicht gemerkt hatte, wie der Pfad sich verloren hatte und sie sich ohne seine Hilfe zwischen Baumstämmen und Sträuchern ihren Weg bahnte. War sie so sehr in Gedanken gewesen? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich – vor allem in so einer Situation, bei der ihre Nerven doch aufs Äußerste gespannt und ihre Sinne geschärft sein sollten!

      Morganas