»Die Frau. War sie es?« fragte er noch einmal. »Komm schon, du weißt, von wem ich red’!«
Liesl Lindhoff ließ die Hand mit dem Geschirrtuch sinken. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Furcht und Bitten um Verständnis wider.
»Ich sollt’s dir net erzählen, hat sie gesagt.«
»Es ist also Andrea«, stellte er fest und holte tief Luft. »Warum ist sie hergekommen, nach all der Zeit? Was will sie?«
Die Magd zuckte die Schultern.
»Ich weiß es net, Georg«, sagte sie leise. »Plötzlich stand sie da, und es war wie damals, als sie immer herkam.«
»Es kann net wie damals sein«, widersprach er vehement. »Es ist zuviel Zeit vergangen. Eher hätt’ se zurückkommen müssen. Viel eher!«
Mit einem Ruck stellte er die Kaffeetasse ab und ging hinaus.
Liesl schaute betroffen hinterher.
*
Der Mann aus Hannover, der den eher süddeutsch klingenden Namen Franz Burger trug, stand vor der Kirche und blickte den Kiesweg hinauf. Er war nicht sicher, ob er sich das Gotteshaus ansehen sollte. Besonders gläubig war er nicht und schon gar nicht katholisch. In seiner Heimat waren die meisten Leute Protestanten, wie es auch seine Mutter gewesen war, die sich erfolgreich gegen ihren Mann durchgesetzt und dafür gesorgt hatte, daß der Sohn evangelisch getauft wurde.
Einen Moment dachte er an die Mutter, die kleine, abgehärmt aussehende Frau, die es nicht immer leicht gehabt hatte. Nicht mit ihrem Mann und mit dem Leben an sich. Daheim, in dem kleinen Dorf am Rande der Lüneburger Heide, hatte sie hart arbeiten müssen. Die Heirat mit dem zugereisten Josef Burger änderte nicht viel daran, denn auch er war nicht mit Reichtümern gesegnet gewesen. Beide arbeiteten sie auf dem Hof eines Heidebauern, führten ein karges Dasein, immer am Rand des Existenzminimums. Das einzige Glück, das Hannelore Burger, geborene Rüter, empfand, war, als der Sohn geboren wurde. Franz sollte er heißen, und diesmal setzte der Vater seinen Willen durch.
Es hätte trotz aller Widrigkeiten ein schönes Leben sein können, wäre Josef Burger nicht immer wieder in tiefe Depressionen verfallen. Franz bemerkte es erst, als er ein junger Bursche war. Doch damals dachte er sich nichts weiter dabei. Er glaubte, daß der Vater unzufrieden mit seinem Leben war und deshalb immer wieder diese »Anfälle« hatte, wie Franz es bei sich nannte.
Er hatte die Schule besucht und eine Lehre bei einem Tischler gemacht. Der Meister übernahm den Gesellen, und später wurde Franz selber der Meister und Inhaber der kleinen Tischlerei. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Daß sein Vater, den er eigentlich von Herzen liebte, sich hin und wieder wie jemand aufführte, der sich von Gott und der Welt verraten fühlte, das wurde dem Sohn noch bewußter, als er die Eltern bei sich aufnahm. Beide waren alt und gebrechlich geworden, und Franz konnte es sich leisten, für sie zu sorgen. Er hatte inzwischen geheiratet, und Lina, seine Frau, gebar ihm einen Sohn.
Thomas war inzwischen neunzehn Jahre alt und hatte vor einigen Monaten die Gesellenprüfung im Tischlerhandwerk abgelegt. Er war der ganze Stolz seiner Eltern. Gerne hätte er seinen Vater auf dieser Reise begleitet, aber er mußte zu Hause mit der Mutter und dem Altgesellen den Betrieb weiterführen, und Franz Burger war auch ganz froh, daß Thomas nicht mitfahren konnte.
Was er hier zu erledigen hatte, das ging nur ihn etwas an. Ihn und den Mann, der für alles verantwortlich war…
Am Morgen, gleich nach einem schnellen Frühstück, hatte er sich auf den Weg gemacht, um den Hof zu finden. Leider verlief die Suche nicht so befriedigend, wie er gehofft hatte.
Den Brandnerhof, den er suchte, gab es offenbar gar nicht!
Franz konnte es gar nicht verstehen. Sein Vater hatte ihm in allen Einzelheiten geschildert, was sich hier im Wachnertal vor mehr als fünfzig Jahren ereignet hatte. Die Geschichte hatte den Sohn schockiert und er verstand, warum der Vater mit seinem Leben so unzufrieden war. Es hätte eine ganz andere Wendung nehmen können, wenn das alles nicht geschehen wäre.
Freilich gab es hier Familien, die den Namen Brandner trugen. Einige besaßen auch Bauernhöfe. Da waren der Thomas Brandner, Alois und Wolfgang, ein anderer Bauer hieß mit Vornamen Vinzent, aber keiner war darunter, der in Frage kam. Franz war um die Mittagszeit unverrichteter Dinge nach St. Johann zurückgekehrt. Er mußte erst einmal alles neu überdenken und sich einen neuen Plan zurechtlegen. Nach einem kleinen Mittagessen im Gasthof hatte er sich zur Kirche aufgemacht. Während er in der Wirtsstube saß, hatte er überlegt, ob nicht dieser Pfarrer Trenker der Richtige wäre, den er nach dem Mann fragen konnte, nach dem er suchte.
Wenn in einem kleinen Dorf jemand über alles Bescheid wußte, dann war es der Geistliche. Das war zu Hause nicht anders als hier.
Franz Burger entschloß sich, erst einmal nachzuschauen, ob er den Pfarrer in der Kirche antraf. Falls nicht, würde er zum Pfarrhaus hinübergehen.
Das Innere des Gotteshauses beeindruckte ihn. Die Kirchen, die er kannte, waren nicht so prachtvoll ausgestattet, obgleich es auch unter ihnen welche gab, die zu besichtigen sich lohnte. Der einsame Besucher ging durch den Mittelgang zum Altar hinunter, schaute zu den Fensterbildern und wandte sich der anderen Seite zu, wo ein Christusgemälde an der Wand hing, gleich neben der Figur der Mutter Gottes. Von beidem hatte ihm sein Vater erzählt.
Nein, nicht erzählt – regelrecht geschwärmt hatte Josef Burger, und der Sohn erinnerte sich an die glänzenden Augen, die sein Vater dabei gehabt hatte.
Nachdenklich blieb Franz Burger vor der Tür zur Sakristei stehen. Plötzlich waren ihm Zweifel gekommen. Pfarrer Trenker machte einen sympathischen Eindruck, und wahrscheinlich würde er ihm nicht seine Hilfe bei der Suche verweigern. Aber es gab zwei Dinge, die Franz bedenklich stimmten.
Zum einen war der Geistliche viel zu jung, um etwas über die alte Geschichte zu wissen. Als sie sich ereignete, konnte er auf keinen Fall hier schon Pfarrer gewesen sein, wenn er denn überhaupt schon auf der Welt war.
Zum anderen konnte er, Franz, nicht sicher sein, daß Hochwürden nicht auch dem Mann zur Seite stand, auf den er es abgesehen hatte.
Je mehr er darüber nachdachte, um so sicherer wurde er, daß es besser sein würde, sich nicht an Sebastian Trenker zu wenden. Er mußte diese Sache alleine aufklären, auch wenn er dabei ganz auf sich gestellt war.
*
»Na, Frau Hofmann, was machen Sie denn für ein Gesicht?« fragte Ria Stubler, als sie die junge Frau durch die Tür kommen sah.
Nach ihrem Besuch auf dem Mäderhof war Andrea eher ziellos durch die Gegend gefahren. Ihr war jetzt klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte, als sie sich entschloß, ins Wachnertal zu fahren.
Georg hatte ihren Namen nie wieder erwähnt, sprach nicht mehr von ihr!
Wie konnte sie da annehmen, daß er sich über ihren Besuch freuen würde?
Es gab keinen Grund, warum sie Liesl nicht glauben sollte. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen, und für die Magd gab es keinen Grund, sie zu belügen.
Andrea hatte irgendwo angehalten, war ausgestiegen und ein ganzes Stück zu Fuß gegangen. Sie wußte nicht recht, was sie anfangen sollte. Ihre Hoffnung war es gewesen, Georg wiederzusehen und zu erfahren, daß es wieder so sein würde wie früher. Ja, sie liebte ihn immer noch. Er war der Grund, warum sie sich nie mit einem anderen Mann eingelassen hatte. Keiner hätte dem Vergleich mit dem jungen Bauern standhalten können.
Aber vielleicht war sie ja damals nur ein Zeitvertreib für ihn gewesen. Ein Spielzeug für ein paar Wochen, das man vergaß, wenn man es nicht mehr sah.
Er hatte ja nicht einmal auf ihren Brief reagiert, in dem sie ihm alles erklärt hatte und um Verständnis bat.
Andrea war so in Gedanken gewesen, daß sie gar nicht bemerkte, wie weit sie sich schon von ihrem Auto entfernt hatte. Sie wußte nicht einmal genau, wo sie sich überhaupt befand. Erst als sie an eine Wegbiegung kam, an der ein großer Felsbrocken stand, fiel