»Es war ein hartes Stück Arbeit«, antwortete er. »Aber wir haben’s gern getan, damit du auch die nächsten Winter wieder warme Füß’ hast.«
Er hatte es mit einem Schmunzeln und Augenzwinkern gesagt.
»Ja, ja, damit mein Rheuma net zurückkommt«, gab Liesl zurück.
Sie lachten.
Liesl Lindhoff war schon an die sechzig Jahre alt. Als junges Madl hatte sie auf dem Mäderhof angefangen und war geblieben. Georgs Vater hatte sie noch als jungen Burschen gesehen und erzählte heute noch manchmal davon, wie Friedrich Mäder die Tochter eines Bauern aus Engelsbach geheiratet hatte, und ein Jahr später Georg auf die Welt gekommen war.
Sie selbst hatte nie geheiratet, obwohl es nie an Bewerbern gemangelt hatte. Aber Liesl wies sie alle ab. Später erfuhr Georg einmal, daß sie sich in seinen Vater verliebt hatte und aus diesem Grund keinen anderen wollte.
Leider hatte es nicht sein sollen, daß sie seine Mutter wurde, dennoch war der junge Bauer für sie wie ein eigener Sohn.
Franz Brandner hatte erst vor einem halben Jahr auf dem Mäderhof angefangen. Er war so alt wie Georg und stammte aus einem kleinen Ort in Unterfranken. Der Knecht hatte sich schnell eingearbeitet und fühlte sich bei seinem Bauern wohl.
Nach dem Essen machte sich Georg an die lästige Aufgabe, seine Steuerunterlagen auf Vordermann zu bringen. In ein paar Tagen war schon wieder Ultimo, und er hatte sich schon einen Termin bei seinem Steuerberater geben lassen.
Franz besserte derweil das Dach des Schuppens aus, mähte den Rasen hinter dem Haus und überprüfte dann den Ölstand des Traktors und räumte auch noch in der Scheune aus. Zusammen mit Liesl trieb der Knecht am Abend die Kühe herein und half der Magd beim Melken.
Es war ein Tag wie jeder andere. Es passierte nichts Aufregendes, und das gab den Bewohnern des Mäderhofs eine gewisse Sicherheit. Es war gut, abwägen zu können, was am nächsten Tag geschah, alles war geplant und hatte seinen Ablauf.
Und doch war da etwas, das den jungen Mann beschäftigte. Eine innere Unruhe hatte ihn ergriffen, die er sich überhaupt nicht erklären konnte. So, als stünde etwas Unerwartetes bevor.
Nach dem Abendessen spazierte Georg ein wenig die Straße hinauf, hockte sich auf einen Stein, der am Ackerrand lag, und schaute nachdenklich vor sich hin.
Plötzlich sah er sie vor sich, die einsame Gestalt. Sie kam den Weg herauf, sah ihn und grüßte lächelnd. Georg, der gerade den Becher seiner Thermoskanne zum Mund führen wollte, setzte ihn wieder ab, fasziniert von dem, was er da sah.
»Das schmeckt bestimmt gut, so an der frischen Luft«, sagte die Unbekannte, als sie vor ihm stand.
Sie schaute ihn mit ihren braunen Augen an, und Georg fühlte etwas in sich, das vorher noch nie dagewesen war.
»Möchten S’ auch einen Schluck?« fragte er mit belegter Stimme.
Doch sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihren Rucksack.
»Danke schön, aber ich hab’ selbst was dabei.«
»Dann setzen S’ sich doch einen Moment«, sagte er und wußte selber nicht, woher er den Mut dazu nahm.
Sie folgte seiner Einladung, und sie unterhielten sich, als würden sie sich schon sehr lange kennen und nicht erst seit ein paar Minuten.
Georgs Kopf ruckte hoch. Er wischte sich über die brennenden Augen, als wollte er mit dieser Bewegung gleichzeitig die Erscheinung verscheuchen, die immer noch vor ihm stand. Er dachte an die beiden Briefe, die er erhalten hatte und die jetzt im Haus, in der Lade seines Schreibtisches lagen. Den ersten hatte er mit ungläubigem Erstaunen gelesen, den zweiten gar nicht erst geöffnet…
Vergiß sie, dachte er, du mußt sie endlich aus deinem Gedächtnis streichen!
*
Andrea wachte am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Ganz gegen ihre Gewohnheit, denn wenn sie am Wochenende nicht arbeiten mußte, oder Urlaub hatte, dann lag sie gerne noch lange im Bett, schlief manchmal sogar wieder ein und ging den Tag ganz in Ruhe und gemütlich an.
Als sie zum Frühstück hinunterging, war es gerade kurz nach acht. Ria Stubler begrüßte sie lächelnd und erkundigte sich, ob Andrea gut geschlafen hatte.
»Ja«, nickte die Sekretärin. »Allerdings net lang’, wie Sie sehen.«
Den Nachmittag hatte sie damit verbracht, ein paar Ansichtskarten zu kaufen. Natürlich sollten die Kollegen im Büro einen Urlaubsgruß bekommen, und ein paar entfernte Verwandte, Großtanten und Onkel, zu denen sie eigentlich keine richtige Beziehung hatte. Man sah sich ein- zweimal im Jahr, weil alle viel zu weit auseinander wohnten. Immerhin wurden regelmäßig Grüße zu Geburts- und Feiertagen ausgetauscht.
Am Abend war sie in das Gasthaus gegangen. In der Wirtsstube, die zum Hotel gehörte, wurde eine etwas bodenständigere Küche serviert als im vornehmeren Restaurant, und die Preise waren moderater als nebenan.
Zuerst hatte sie gezögert, das Lokal zu betreten und überlegt, ob sie zum Essen nicht doch besser in die Stadt fahren sollte. Schließlich war es nicht ausgeschlossen, daß sie Georg hier beim Feierabendbier antraf. Früher, jedenfalls, hatte er des öfteren hier gesessen und sich mit anderen Bauern unterhalten.
Doch in die Stadt war es weit, und sie hatte eigentlich keine Lust dazu. Also überwand sich Andrea und ging hinein. In der Gaststube war es voll gewesen, es gab keinen freien Tisch mehr, aber ein junges Paar wartete schon auf die Rechnung und signalisierte der jungen Frau, daß es gleich gehen würde.
Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sitzen und auf den Stammtisch zu schauen, wo sich an jedem Mittwochabend der Pfarrer, der Arzt, Kaufmann, Apotheker und Bürgermeister trafen. Auf der anderen Seite saßen immer, genau wie heute, einige Dörfler, und unter ihnen hatte auch immer Georg gesessen. Manchmal jedenfalls, denn nachdem sie sich kennengelernt hatten, war der Bauer nur noch wenig ins Wirtshaus gegangen und dann auch nur mit ihr zusammen. Von ihrem Platz aus konnte Andrea den Tisch sehen, an dem sie meisten gesessen hatten.
Auch an ihrem letzten Abend…
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die Bedienung kam und sich nach ihrer Bestellung erkundigte. Mittags hatte Andrea nichts gegessen und so bestellte sie sich ein Schwammerlragout mit Semmelknödel und Salat. Sie blieb danach aber nicht mehr lange sitzen und ging schon bald in die Pension zurück. Vom Fenster ihres Zimmers aus schaute sie in die Richtung, in der der Mäderhof lag, und überlegte, was sie dort gerade machten.
Georg saß vielleicht vor dem Fernseher, oder er arbeitete noch irgendwas draußen auf dem Hof. Liesl stopfte vielleicht Wäsche oder bereitete schon das Essen für den nächsten Tag vor, weil sie morgens keine Zeit dazu finden würde.
Andrea merkte, wie eine unbändige Sehnsucht sie überkam. In den letzten Jahren hatte sie sich immer wieder diese Szene ausgemalt und sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie Teil dieses Lebens sein würde.
Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich in einen Sessel. Dort blieb sie, bis es im Zimmer ganz dunkel geworden war, und hing ihren Gedanken nach.
*
»Ich hab’ draußen gedeckt«, erklärte jetzt die Wirtin. »Es ist wieder so ein herrliches Wetter. Heut’ früh um sechs hatten wir schon sechzehn Grad, und bis zum Mittag sollen es über dreißig werden.«
Auf der Terrasse saßen schon ein paar Gäste, darunter das junge Paar, das Andrea gestern abend im Wirtshaus gesehen hatte. Sie nickte den beiden zu und grüßte nach allen Seiten. Ihr Tisch stand auf der rechten Seite, im Schatten eines hohen Baumes, und war nur für eine Person eingedeckt. Ria Stubler erkundigte sich, ob sie Kaffee oder Tee wollte und ob das Ei weich oder hartgekocht sein sollte.
Andrea entschied sich für Tee und staunte wenig später, als die Wirtin ein Stövchen an den Tisch brachte und die Kanne darauf absetzte. Darin schwamm keineswegs der erwartete Teebeutel, sondern ein Filter, in dem sich »richtige« Teeblätter befanden. Es war ein perfekter