Seine Haushälterin sah ihn fragend an.
»Kaffee oder was Kaltes?«
»Apfelsaft hätten wir gern’, Frau Tappert.«
Sie nickte und holte eine Karaffe aus dem Kühlschrank.
»Können Sie Gedanken lesen?« fragte Sebastian schmunzelnd.
»Dann hätt’ ich net zu fragen brauchen«, erwiderte Sophie Tappert und reichte ihm noch zwei Gläser. »Außerdem glaub’ ich net an Gedankenleserei und diesen Humbug.«
Sebastian bedankte sich und kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Andrea Hofmann saß immer noch auf ihrem Platz und schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
»Lassen S’ sich schmecken«, sagte der Geistliche, nachdem er eingeschenkt hatte.
Die junge Frau nahm einen Schluck.
»Köstlich!« bemerkte sie.
»Den macht die Frau Tappert selbst«, erklärte Sebastian. »Wir haben viele, alte Apfelbäume im Pfarrgarten.«
Er lehnte sich zurück und schaute die Besucherin auffordern an.
»Jetzt erzählen S’ aber erst einmal.«
Das tat Andrea. Sie sprach davon, wie es damals mit ihr und Georg Mäder angefangen hatte, von den schönen Wochen, die sie zusammen erlebten, von dem schweren Abschied und dem Versprechen, wiederzukommen.
Sie erzählte von der Krankheit ihrer Mutter, von dem Brief, die sie Georg schrieb, und den er unbeantwortet ließ, und kam schließlich auf den Besuch heute morgen zu sprechen, der so niederschmetternd für sie gewesen war.
Der Bergpfarrer hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Nur hin und wieder nickte er verständnisvoll.
»Tja, das ist schon seltsam«, sagte er dann, nachdem Andrea geendet hatte, »man müßt eigentlich denken, daß der Georg Sie genauso vermißt hat wie Sie ihn. Aber statt dessen beantwortet er den Brief net, und wie Sie heut’ erfahren haben, spricht er net einmal mehr von Ihnen.«
»Was schließen Sie daraus?« fragte sie. »Das kann doch nur bedeuten, daß er nie wirklich Kontakt mehr zu mir haben wollte, nachdem ich abgereist war.«
Sebastian Trenker schüttelte den Kopf.
»Da wär’ ich net so sicher«, widersprach er. »Ich kenn’ den Georg. Wenn er einem Madl sagt, daß er es liebt, dann meint er es auch so. Es muß ja einen Grund geben, warum er immer noch net verheiratet ist, und ich vermute, daß Sie dieser Grund sind.«
»Ich?« fragte Andrea ungläubig.
»Ja«, nickte der Bergpfarrer. »Und ich bin fast sicher, daß seine Haltung etwas mit dem Brief zu tun hat. Sind Sie sicher, daß er ihn überhaupt erhalten hat?«
Die Sekretärin war überrascht. An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt noch nicht gedacht.
Was, wenn ihr Brief wirklich niemals bei ihm angekommen war?
»Nein«, antwortete sie auf die Frage des Geistlichen, »sicher bin ich net. Wie auch? Ich bin einfach davon ausgegangen, daß ihn der Brief erreicht, und Georg ihn auch gelesen hat.«
»Am besten wird’s sein, ich statte ihm mal einen Besuch ab«, schlug Sebastian vor. »Mal sehen, wie er dazu steht, wenn ich ihn frag’. Eine Antwort wird er mir gewiß geben. Allerdings werd’ ich besser net gleich mit der Tür ins Haus fallen und mich erst einmal vorsichtig an die ganze Sache heranpirschen…«
Andrea atmete erleichtert auf.
»Vielen Dank, Hochwürden«, sagte sie.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Sie müssen sich net bedanken«, entgegnete er. »Ich freu’ mich ja, wenn ich Ihnen helfen kann. Also, gleich morgen früh fahr’ ich zum Mäderhof hinauf und red’ mit dem Georg. Anschließend meld’ ich mich bei Ihnen.«
Er brachte die Besucherin zur Tür.
»Das ist ja eine sonderbare Geschichte«, murmelte der Geistliche, als er wieder in sein Arbeitszimmer zurückging. »Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«
*
»Na, geht’s ein bissel besser?« erkundigte sich Ria Stubler teilnahmsvoll, als Andrea wieder in der Pension war.
Die junge Frau lächelte.
»Ja, Ria, ich hab’ mit Pfarrer Trenker gesprochen. Vielen Dank für den Rat.«
»Und was hat Hochwürden vor?«
Andrea erzählte, was sie und der Geistliche besprochen hatten. Ihr ging es wirklich schon ein wenig besser, nach diesem Gespräch, und sie beschloß, einen kleinen Spaziergang zu machen. Aufgeregt, wie sie immer noch war, würde sie es bestimmt nicht aushalten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zu verbringen.
»Aber zum Abendessen kommst’ wieder her«, sagte sie Wirtin. »Ich lad’ dich ein.«
Rias gutes Herz ließ sie immer wieder solche Einladungen aussprechen, wenn ihr ein Gast sympathisch war. Und Andrea Hofmann war ihr sehr sympathisch.
»Danke schön«, nickte die Sekretärin. »Ich freu’ mich schon drauf.«
Sie ging rasch in ihr Zimmer hinauf und zog sich feste Schuhe an. Auf eine Jacke wollte sie verzichten, warm wie es draußen war, aber richtiges Schuhwerk war bei einem Spaziergang außerhalb des Dorfes unabdingbar. Andrea hatte St. Johann bald hinter sich gelassen und stieg einen Pfad hinauf, der am Ainringer Wald vorbeiführte. Links lagen Wiesen und Felder, rechts lockte der dunkle Forst. Früher wäre sie sehr gerne durch das Dickicht gestreift und hätte nach Schwammerln gesucht. Aber da sie weder Korb noch Messer dabei hatte, verzichtete sie darauf. Statt dessen erfreute sich die junge Frau an der schönen Natur und atmete tief die würzige Luft ein.
Was mußte es herrlich sein, hier zu leben! Die Menschen im Wachnertal waren wirklich zu beneiden!
Damals, da hatte sie selbst daran gedacht, für immer herzukommen. Auch wenn Georg gesagt hatte, sie sollten die Zeit entscheiden lassen, hatte sie sich vorgestellt, wie glücklich sie mit ihm auf dem Hof leben würde als Mann und Frau.
Nun, die Zeit hatte entschieden und zwar gegen sie. Auch wenn in ihr immer noch das Feuer die Liebe glühte, so war es in seinem Herzen längst erloschen.
Andrea lehnte an einem Baumstamm und schaute gedankenverloren ins Tal hinunter. Sie war so in ihren Erinnerungen vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie sich am Himmel dunkle Wolken zusammenzogen. Erst als die Sonne fort war, und es spürbar kühler wurde, schreckte die Sekretärin auf.
Ach du liebe Güte, durchfuhr es sie, als sie zum Himmel schaute, da braut sich ein Unwetter zusammen! Hoffentlich komm’ ich noch trocken ins Dorf zurück!
Andrea hatte es kaum zu Ende gedacht, als es über ihr auch schon bedrohlich grummelte. Eilig lief sie den Weg zurück. Auf dem Spaziergang hatte sie gar nicht auf die Zeit geachtet, aber es mußte wenigstens eine Stunde gewesen sein, die sie unterwegs war. Und die würde sie auch brauchen, um nach St. Johann zurückzukehren.
Dann fielen auch schon die ersten Tropfen. Ein eisiger Wind rauschte durch die Bäume und ließ sie frösteln. Andrea schimpfte mit sich selber, weil sie darauf verzichtet hatte, eine Jacke mitzunehmen und sie statt dessen nur in Jeans und T-Shirt gekleidet war. Immerhin hatte sie die Sandalen gegen Halbschuhe getauscht. Das waren zwar auch keine Wanderstiefel, aber immer noch besser, als die dünnen Schläppchen.
Der Regen wurde stärker. Wie dünne Fäden kam er zuerst herunter, dann wurde es ein stetiger Strom. Dazu blitzte und krachte es, daß einem angst und bange werden konnte.
Du mußt dich irgendwo unterstellen, dachte Andrea, sonst wirst du naß bis auf die Haut!
Aber wohin sollte sie?
Auf die Wiese konnte sie nicht, denn dort gab es keinen Schutz vor dem Unwetter, und in den Wald zu laufen, wagte sie nicht,