Stunden saß sie dort und erinnerte sich an all das, was vor drei Jahren geschehen war. Es war, als erinnerte sie sich an jedes Wort, das sie gesprochen hatten, jede Umarmung, jeden Kuß.
Im Tal läuteten die Kirchenglocken. Andrea schreckte hoch und schaute auf die Uhr. Sie war so in ihren Erinnerungen versunken gewesen, daß sie es die anderen Male gar nicht mitbekommen hatte, wenn die Glocken anschlugen.
Sie stand auf und klopfte ihre Hose ab. Langsam ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und fand das Auto wieder. Andrea fuhr nach St. Johann zurück, ohne zu wissen, was sie eigentlich noch dort wollte.
»Ist alles in Ordnung?« hakte die Wirtin nach.
Andrea antwortete nicht, und Ria fand, daß die junge Frau alles andere, als einen glücklichen Eindruck machte, und ihr mütterlicher Instinkt sagte ihr, daß sie sich ein wenig um Andrea Hofmann kümmern sollte.
»Ich hab’ grad Kaffee gekocht«, setzte sie hinzu. »Was halten S’ davon, wenn wir eine Tasse trinken und uns dabei ein bissel unterhalten?«
Endlich nickte die Sekretärin, und in ihrem Gesicht zeigte sich ein dankbares Lächeln.
»Die andren Gäste sind alle aus dem Haus«, erklärte Ria. »Wir sind also ungestört, wenn wir uns nach draußen setzen.«
Rasch ging sie in die Küche, um Kaffee zu holen, Andrea nahm schon auf der Terrasse Platz. Nach kurzer Zeit kam die Pensionswirtin und stellte ein Tablett auf dem Tisch ab.
»Den Kuchen hab’ ich heut’ morgen gebacken«, erklärte sie. »Ich hoff’, er schmeckt Ihnen, Frau Hofmann.«
»Vielen Dank«, erwiderte Andrea, und bat Ria, sie doch beim Vornamen zu nennen.
»Das mach’ ich gern’«, nickte die Wirtin und hob ihre Kaffeetasse, »und ich bin die Ria.«
»Hmm, der ist aber wirklich lecker«, sagte Andrea, als sie von dem Napfkuchen abgebissen hatte. »So mag ich ihn besonders gern, mit der dunklen Schokolade darin.«
»Und magst’ jetzt darüber sprechen, was dich bedrückt?« fragte Ria Stubler.
Die Sekretärin blickte versonnen auf die blühende Pracht im Garten, dann sah sie die Wirtin an und erzählte, warum sie nach St. Johann gekommen war, und von dem Besuch auf Georgs Hof.
Ria war überrascht.
»Der Georg Mäder also«, sagte sie. »Na, das hätt’ ich net gedacht. Weißt’, Andrea, im Dorf wird natürlich viel geredet, und manche zerreißen sich schon lang’ das Maul darüber, daß der Georg immer noch Junggeselle ist. Es ist schon ungewöhnlich, daß so ein junger Bauer net heiraten will. Auf einen Hof gehört nun mal eine Frau, und die Liesl ist ja auch net mehr die Jüngste. Ganz abgesehen davon, daß es reichlich Bewerberinnen geben würd’. Aber glaubst’ net, daß genau das bedeuten könnt’, daß der Georg dich immer noch liebt? Das er deswegen kein andres Madl anschaut?«
»Nein, das glaub’ ich net«, schüttelte Andrea den Kopf. »Die Liesl hat doch ganz deutlich gesagt, daß er nie wieder meinen Namen erwähnt hat. Und warum hat er net auf meinen Brief geantwortet, den ich ihm geschrieben hab’? Das muß doch einen Grund haben!«
»Ja, schon«, gab Ria zu. »Wer weiß schon, was damals in ihm vorgegangen ist. Aber das wirst’ ihn schon selbst fragen müssen.«
»Ich weiß net«, meinte die junge Frau und schüttelte den Kopf. »Er weiß ja net, daß ich da bin, und der Liesl hab’ ich gesagt, daß sie’s ihm net sagen soll.«
Ria dachte nach.
»Vielleicht«, sagte sie nach einer Weile, »solltest’ dich Hochwürden anvertrauen. Du kennst Pfarrer Trenker doch. Bestimmt wird er bereit sein, zwischen euch zu vermitteln. Was willst’ denn machen, wenn dein Urlaub zu End’ ist? Heimfahren, als wär’ nix gewesen, als hättest’ den Georg nie gekannt?«
Sie sah Andrea eindringlich an.
»Madl, unter Umständen hängt dein Lebensglück davon ab, daß du net aufgibst«, setzte sie hinzu.
*
Lange Zeit stand Andrea vor der Madonnenstatue und schaute sie an. Zum ersten Mal hatte sie die Figur gesehen, als sie mit Georg in die Messe gegangen war. Voller Stolz hatte er sie herumgeführt, und später hatten sie vor dem Altar gesessen und sich an den Händen gehalten.
Jetzt war sie alleine hergekommen. Georg hatte sie aus seinen Gedanken gestrichen und wahrscheinlich würde er nie erfahren, daß sie überhaupt zurückgekommen war.
Nein, solchen düsteren Gedanken wollte Andrea nicht nachhängen. Schließlich war sie in die Kirche gegangen, um Ria Stublers Rat zu befolgen und mit Pfarrer Trenker zu sprechen. Vielleicht gab es ja noch eine Chance…
Zuerst hatte sie zum Pfarrhaus gehen wollen, doch dann hatte sie die Kirche betreten, um sich daran zu erinnern, wie Georg und sie hier gewesen waren. Ein Moment, der sie damals überwältigt hatte und es auch heute wieder tat.
Außer ihr waren noch ein paar andere Besucher da. Sie standen einzeln oder in Gruppen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Andrea schaute, ob sie den Geistlichen irgendwo fand, und verließ das Gotteshaus wieder, als das nicht der Fall war.
Hoffentlich ist er überhaupt da, dachte sie, während sie die Klingel drückte.
Eine Frau öffnete, und Andrea erinnerte sich, daß es die Haushälterin war.
»Grüß Gott, Frau Tappert«, sagte sie. »Ich würd’ gern’ den Herrn Pfarrer sprechen.«
»Ja, bitt’ schön, treten S’ ein«, nickte Sophie Tappert. »Hochwürden ist im Arbeitszimmer. Ich bin sicher, daß er einen Moment Zeit hat, Frau…«
»Hofmann.«
Die Haushälterin klopfte an die Tür des Arbeitszimmers und öffnete sie.
»Besuch, Hochwürden«, sagte sie. »Frau Hofmann.«
Sebastian stand von seinem Schreibtisch auf und kam an die Tür.
»Grüß Gott, Frau Hofmann«, nickte er der Besucherin freundlich zu. »Kommen S’ herein. Was kann ich für Sie tun.«
Er bot ihr einen Platz an und grübelte währenddessen, woher ihm die Frau so bekannt vorkam. Der Bergpfarrer hatte ein untrügliches Personengedächtnis und vergaß kaum ein Gesicht, das er mal gesehen hatte.
Und dann fiel es ihm ein.
»Andrea Hofmann, net wahr?«
Die Sekretärin nickte überrascht.
»Sie erinnern sich an mich?«
»Freilich, das muß jetzt etwa drei Jahre her sein«, erwiderte Sebastian. »Sie waren auf Urlaub hier und haben dabei den Georg Mäder kennengelernt.«
Er lächelte.
»Und Sie waren sehr verliebt damals«, setzte er hinzu.
Andrea lächelte ebenfalls. »Ja, das waren wir«, erwiderte sie. »Leider hat’s net lang’ gehalten.«
Der Geistliche hatte sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt.
»Dabei hatte ich den Eindruck, daß es für immer wär’…«
»Manchmal gibt es im Leben Umstände, die verhindern, daß alles so verläuft, wie man es sich vorstellt.«
»Da haben S’ recht, Andrea«, nickte Sebastian. »Wollen S’ mir erzählen, was geschehen ist?«
»Darum bin ich hergekommen«, antwortete sie. »Und um Sie um Hilfe zu bitten. Ich war heut’ morgen auf dem Hof, der Georg war net zu Haus’, aber ich hab’ mit der Liesl gesprochen…«
»Am besten erzählen S’ von Anfang an«, schlug der gute Hirte von St. Johann vor. »Aber