Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. Natalka Sniadanko. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalka Sniadanko
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709939451
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sie sich schwer an der Wirbelsäule verletzt und einen Buckel bekommen.

      Karl Stephan bestellte bei einem Wiener Orthopäden ein Eisenkorsett, das ihr das Gehen erleichtern sollte. Willy half dem Kindermädchen manchmal die Treppe hinunter, wenn sie von einer Schmerzattacke überrascht wurde. Doch Karl Stephans Angebot, sie könne eine leichtere Arbeit ausüben oder sich mit einer kleinen Pension, die ihr die Habsburger lebenslänglich auszahlen würden, im Dorf niederlassen, lehnte sie kategorisch ab.

      Das Kindermädchen liebte ihre Zöglinge. Und sie hatte alle gleich lieb, im Unterschied zur Mutter, die ihren jüngsten Sohn bevorzugte. Manchmal war das so offensichtlich, dass sich die anderen Kinder Streiche für Wilhelm ausdachten. Der kleine Albrecht legte Wilhelm einmal eine schmutzige Kröte unter das Kopfkissen, ein anderes Mal eine vermeintliche Ringelnatter, die sich später als Kreuzotter mit einem eingetrockneten weißen Fleck auf dem Kopf entpuppte, weshalb Albrecht sie für eine Ringelnatter gehalten hatte. Zum Glück passierte nichts, doch fühlte sich Albrecht von diesem Zeitpunkt an seinem Bruder gegenüber unbewusst schuldig. Vielleicht zahlte er Wilhelm später deshalb gegen den Willen des Vaters jahrelang Dividenden aus der Bierbrauerei der Familie. Das Kindermädchen war der Meinung, dass Maria Theresia nichts von Kindererziehung verstand, und ignorierte deshalb alle Verbote zu naschen, Wasser aus dem Fluss zu trinken, Freundschaft mit Dorfkindern zu schließen, und vor allem die Anordnung, den Kindern jeden Tag weiße Strümpfe anzuziehen.

      „In weißen Strümpfen durch den Wald laufen ist eine Verhöhnung“, murmelte das Kindermädchen vor sich hin. „Nicht nur für die Kinder, auch für die Wäscher – das sind auch Menschen! Die Kinder sollen barfuß laufen, Weiß werden sie noch genug tragen.“

      Immer, wenn Maria Theresia sah, dass ihre sechs Kinder bis zu den Ohren mit Matsch bespritzt gemeinsam mit den Dorfkindern und den Kindern der Diener in einer Schlammpfütze spielten, wurde ihr übel. Sie war überzeugt, dass man Kinder mit Sauberkeit und ästhetisch erlesenem Interieur umgeben sollte, damit sie ein Gefühl für Schönheit entwickelten. Karl Stephans Ansichten über Erziehung waren pragmatischer, er schätzte das Kindermädchen sehr für ihre Hingabe den Kindern gegenüber und dafür, dass sie von ihr lebendiges Polnisch lernten. Demnach wollte er nichts von einer Einschränkung ihrer Kompetenzen hören.

      Das Kindermädchen bewohnte eine winzige Kammer neben den Schlafzimmern der Kinder. Jede Nacht stand sie einige Male auf und lauschte an den Türen, ob auch alles in Ordnung war. Als die Kinder klein waren, richtete sie ihnen die Decke oder machte das Nachtlicht aus.

      Manchmal bekam das Kindermädchen Besuch von ihren zahlreichen Freundinnen im Dorf. Meist saßen sie im Zimmer des Kindermädchens, das schon Tage im Voraus verschiedenste Speisen zubereitete, um die Dorffrauen mit für sie seltenen Leckereien zu verwöhnen. Wenn Stephan erfuhr, dass das Kindermädchen Besuch bekam, ließ er ihr stets eine Flasche Wein oder Likör bringen. Einmal brachte er die Flasche sogar selbst ins Zimmer des Kindermädchens. Er betrat den halbdunklen Raum, in dem nur ein paar Kerzen brannten, und sah vier Frauen um einen mit Speisen überquellenden Tisch sitzen und weinen. Er fragte verwundert, was los sei.

      „Nichts“, antwortete das Kindermädchen und seufzte. „Uns war einfach nach Weinen. Wir haben so lange nicht miteinander geweint.“

      Die Dorffrauen fanden immer einen Grund zu weinen. Oft kam eine von ihnen völlig verschwollen und mit blauen Flecken im Gesicht zum Kindermädchen, nachdem ihr Mann sie im Suff geschlagen hatte, und blieb sogar über Nacht, aus Angst, er könnte sie totschlagen. Fast jeden Winter verlor eine der Freundinnen ein Kind, weil es sich erkältet hatte. Sie hatten Aborte, Entzündungen, Krankheiten, sie arbeiteten schwer, auf dem Feld und zu Hause, lebten in ständiger Angst vor Unwettern, Missernten, Strafen Gottes und ihren Männern. Es gab so oft Grund zu weinen, dass sie keine Zeit hatten, jede einzelne Gelegenheit zu nutzen. Also kamen sie hin und wieder an einem angstfreien Ort zusammen und weinten über alles auf einmal und im Voraus. Danach war ihnen leichter zumute.

      Nach der Renovierung des Schlosses brachte Stephan die vom Onkel geerbte Bierbrauerei auf den neuesten Stand der Technik. In dieser Brauerei sollte später ein berühmtes polnisches Bier hergestellt werden und zu Teilen würde sie sogar noch den Habsburgern gehören, als von der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nur noch in Geschichtsbüchern die Rede war. Karl Stephan ließ elektrisches Licht einleiten und obendrein eine Mini-Eisenbahnlinie für den Transport von Brennholz errichten. Diese Eisenbahn faszinierte Willy von klein auf. Stundenlang konnte er dastehen und der Bewegung der Rädchen und Kolben zusehen, wenn der Zug anfuhr oder stehen blieb. Willy liebte alle eine Zugfahrt begleitenden Gerüche, sogar den Gestank von heißem Maschinenöl oder Masut. Oft waren schwarz verschmierte Lokführer die Helden seiner Träume. Einmal beschloss Willy einen an der Lokomotive hängenden Eiszapfen zu kosten. Er kroch unter den Zug, der die ganze Nacht über bei der Brauerei gestanden hatte, um die Eiszapfen abzubrechen. Obwohl er schreckliche Angst hatte, der Zug könnte anfahren und ihn überrollen, konnte er der Versuchung einfach nicht widerstehen. Das Kindermädchen, das an jenem Tag mit den Kindern spazieren ging, hatte sich durch ein Gespräch mit dem Wächter ablenken lassen und wurde erst aufmerksam, als der von Kopf bis Fuß mit Masut beschmierte, aber glückliche Willy ihr einen Eiszapfen zum Probieren hinhielt. Bei dem Gedanken, was dem jungen Erzherzog unter dem Zug hätte zustoßen können, wurde sie beinahe ohnmächtig. Nach diesem Vorfall wich das Kindermädchen bei Spaziergängen nicht mehr von Willys Seite und wollte nicht einmal seine Hand loslassen. Fortan war es Willy verboten, sich den Zügen zu nähern. Das schürte seine Neugier noch mehr, und er wartete mit Ungeduld auf die Reise nach Wieliczka bei Krakau, wo es ein berühmtes Salzbergwerk gab. Der Vater hatte den Kindern diese Fahrt schon lange versprochen.

      Am Morgen der lang ersehnten Reise erwachte Willy noch vor dem Morgengrauen und konnte vor Aufregung nicht mehr einschlafen. Ein paar Mal kletterte er auf das Fensterbrett im Kinderzimmer und versuchte hinter dem mit Raureif bedeckten Fenster etwas zu erkennen. Aber draußen war es dunkel. Endlich hörte er aus der Ferne das bekannte Pfeifen der Lokomotive. Vielleicht war der Lokführer gekommen und traf Vorbereitungen für die Fahrt. Willys erste Reise mit der neuen Eisenbahn!

      Im Flur ertönten Schritte. Das Kindermädchen stieg die Treppe zum Kinderzimmer hinauf. Gleich würde sie sich die gestärkte Schürze umbinden und das Zimmer betreten. Und während sie die üblichen Morgenrituale vollziehen – Gebet, Gymnastik, kalte Waschungen, Morgentoilette, Ankleiden, Frühstück –, wird vom kleinen Bahnhofsgebäude zum Zug ein roter Teppich ausgerollt. Das ist immer so, wenn die Familie des Erzherzogs eine Reise macht. Entlang des Teppichs stehen die Diener in Paradelivree Spalier und warten geduldig, bis die Kinder mit dem Kindermädchen und einigen Gouvernanten in den Zug steigen. Willy hüpft vor Aufregung und isst fast nichts zum Frühstück. Vor seinen Augen drehen sich bereits die Räder der Waggons, die er vergeblich vom Zugfenster aus zu sehen versucht. Der Hunger holt ihn während der Fahrt ein, sie haben bereits ein gutes Stück der Reise hinter sich. Als hätte das Kindermädchen seine Gedanken gelesen, packte es die von zu Hause mitgenommenen belegten Brote aus, dazu gab es leckeren Tee. Willy beobachtete begeistert, wie eine Bedienstete im Gang aus einem großen, glänzenden Samowar heißes Wasser in die Tassen füllte. Unter dem Samowar knackten fröhlich die Scheite im Feuer.

      Kurz vor der Ankunft döste Willy ein. Er erwachte, als der Zug anhielt und die Lokomotive laut Dampf abließ. Der Junge schaute aus dem Fenster und sah, dass sie auf dem Abstellgleis standen. Sie reisten also inkognito. Willy freute sich, denn nun mussten sie keine Zeit für die ermüdenden offiziellen Zeremonien verschwenden. Auf diesem Gleis hielt auch der Zug des Kaisers, wenn er zu einem festlichen Empfang im Salzbergwerk anreiste und die offizielle Zeremonie am Bahnhof umgehen wollte. Vor dem Eingang zum Bahnhof warteten Equipagen, die sie zum Bergwerk brachten. Der kleine Willy sah den ganzen Weg über aus dem Fenster, denn er konnte es nicht erwarten, endlich in den Berg zu fahren.

      In der Eingangshalle des Salzbergwerks bat man sie, Mäntel und Hüte abzulegen, und gab ihnen stattdessen weiße Mäntel und Schutzhelme, was Willy ganz besonders gefiel. Mit einem speziellen hydraulischen Aufzug fuhren der Reihe nach alle – das Kindermädchen, die Kinder, die Gouvernanten und der Führer – zur ersten Ebene, ungefähr hundert Meter unter