8.00: erste Unterrichtsstunde.
10.00: Sandwich und ein Glas Wein.
11.00: Spaziergang bei Unterhaltungen in einer Fremdsprache.
12.00: Mittagessen, dazu ebenfalls Wein. Im Sommer wurde auf der weitläufigen Veranda zu Mittag gegessen, umgeben von großen, blühenden Sträuchern, im Winter im Wintergarten, neben dem sich ein Glashaus mit Blumen befand, über denen blaue und grüne Wellensittiche herumflatterten. Danach war Tennis oder Eislaufen an der Reihe. Die Abfolge war unabänderlich, und jede Abweichung bedeutete eine echte Sensation. Meist war Karl Stephan der spontane Initiator solcher Variationen. Alle anderen riskierten beim Versuch, den Ablauf zu ändern, eine strenge Strafe.
Einmal erzählte Wilhelm Halyna von der lustigen Begebenheit, als das Tennisspielen völlig überraschend auf 11.30 vorverlegt wurde. Es war der erste Arbeitstag der neuen englischen Gouvernante Miss Nellie Ryan im Schloss. Sie wollte sich gerade bei Karl Stephan vorstellen, als Eleonora zum Vater gelaufen kam, um ihm freudig mitzuteilen, dass Miss Ryan Tennis spiele, und um zu fragen, ob sie gleich heute alle zusammen eine Partie spielen könnten. Karl Stephan antwortete gedankenlos: „Aber natürlich, bringt die Schläger!“, und ignorierte die verwunderten Blicke der Diener, die nicht wussten, wie sie sich in einer derart von der Norm abweichenden Situation verhalten sollten. Sie warfen Miss Ryan böse Blicke zu, weil in ihren Augen sie an dieser Misere schuld war. Die erschrockene Gouvernante lief in ihr Zimmer und fand in den unausgepackten Koffern mit Müh und Not die Tenniskleidung. Sie hatten drei Sätze gespielt, als der Gong drei Mal zum Mittagessen rief und der Majordomus in Livree und weißen Handschuhen auf dem Tennisplatz erschien. Der überraschte Karl Stephan fragte nach der Uhrzeit und scherzte dann lachend, die hübsche Miss habe ihm so den Kopf verdreht, dass er alles vergessen habe, sogar das Mittagessen.
15.30: Tee und Kuchen.
15.45: Unterricht.
19.00: Abendessen. Nach dem Abendessen stellten sich die Kinder in einer langen Reihe auf und traten eines nach dem anderen zu den Eltern vor, um ihnen die Hand zu küssen und eine gute Nacht zu wünschen. Dieses ermüdende Ritual dauerte ziemlich lange, denn sie mussten genau aufpassen, sich dem Alter nach vom jüngsten bis zum ältesten aufzustellen und stets links aneinander vorbeizugehen. Wenn sich Maria Theresia oder Karl Stephan zum Essen verspäteten, hatte man auf sie zu warten. Manchmal eine halbe Stunde oder länger.
Jahre später sollte Halyna mit Oles das Kindermuseum im Schloss Schönbrunn in Wien besuchen, damit er die Spielsachen der Habsburgerkinder ausprobieren, in ihren Büchern und Atlanten blättern, bestimmte Alltagsgegenstände sehen und diesen Tagesablauf lesen konnte.
„Gut, dass ich nicht um sechs aufstehen muss“, sollte Oles die Führung für sich zusammenfassen. „Ich dachte, meine Schule ist die schlimmste der Welt, aber es geht anscheinend noch schlimmer: Wenn alle Lehrer bei dir zu Hause sind, gibt es kein Entkommen. Und Wein würde ich auch nicht jeden Tag trinken wollen, noch dazu so früh. Wein ist schrecklich sauer.“
Karl Stephans Kinder hatten praktisch keine Ferien. Nur Juni und Juli waren bis auf die Fremdsprachen unterrichtsfrei, ein paar freie Tage fielen noch auf Weihnachten und Ostern. Mit fünf Jahren konnten alle Kinder lesen, schreiben und unterhielten sich in fünf Sprachen.
Zu Fuß ins Gymnasium
Keines von Karl Stephans Kindern hatte Griechisch oder Latein gelernt, denn sie wurden nicht nach dem Lehrplan des Gymnasiums unterrichtet. Eine Tatsache, die später Wilhelms Offiziersburschen Iwan, Sohn eines ukrainischen Bauern, verblüffen sollte. Iwans Familie war, an den damaligen Maßstäben gemessen, beinahe wohlhabend. Der Vater besaß ein Feld, das er unter seinen beiden Söhnen aufteilen wollte. Iwan war der ältere und sollte den Hof übernehmen. Wie die meisten ukrainischen Bauern jener Zeit war auch der Vater der Meinung, seine Kinder müssten so wie schon Urgroßvater, Großvater und Vater Bauern werden. Aber Iwan hatte einen derart starken Drang zu lernen, dass er nach der Dorfschule ins Gymnasium wollte. Mit dem Besuch der Dorfschule konnte der Vater gerade noch leben, auch wenn die Schule Iwan von der Arbeit abhielt. Vom Gymnasium jedoch wollte er nichts wissen. Als die Zeit kam, sich am Gymnasium einzuschreiben, fand Iwan selbst heraus, welche Schule für ihn die beste war, wie man sich für die Aufnahmeprüfung vorbereiten konnte, wann man wo zu erscheinen hatte, in welcher Schule am wenigsten geprügelt, in welcher auf Ukrainisch unterrichtet wurde und wo es die besten Lehrer gab. Er tüftelte einen genauen Plan aus, wie er den Vater von seinem Vorhaben überzeugen konnte, und verriet ihn niemandem. Den ganzen Sommer über war Iwan so folgsam, dass der Vater schon glaubte, der Sohn habe die dumme Idee mit der „Wissenschaft“ aufgegeben. In jenem Sommer träumte Iwan fast jede Nacht davon, dass er mit anderen Gymnasiasten beisammenstand: in einer engen Bluse mit Schnalle und einer roten Borte für die Knöpfe, mit breiten goldenen Tressen und dem in Gold gestickten, wellenförmigen Emblem des Gymnasiums auf der hohen schwarzen Kappe. Er träumte, dass sich die Jungen im Morgengrauen vor dem Schulgebäude sammelten, beim ersten Kellerfenster, dem Treffpunkt der Schüler der 1A, welcher ihnen vom Schulaufseher – dem Repetenten – zugewiesen worden war. Die Jungen erzählten einander von ihren Ferienabenteuern, bis der Schulwächter – ein Tertianer – das Tor öffnete und sie in die weitläufige Aula einließ. Dort blickten auf hohen Postamenten stehende griechische Götter mit schimmernden Ambrosialocken streng von allen Seiten auf die Schüler herab.
Das erste Problem, das Iwan zu lösen haben würde, war die Anreise. Wie sollte er am Tag der Schuleinschreibung in die Stadt kommen? Theoretisch könnte er das mit den Eltern, die am selben Tag auf dem Pferdewagen zum Markt fahren wollten. Iwan wusste, dass der Vater schwer zu überreden sein würde, dennoch bereitete er sich sorgfältig vor und verlor kein Wort über seinen Plan.
Ein paar Tage davor schrubbte er am Abend gründlich seine Füße, um sie von den Schwielen zu befreien, denn bisher war er nur barfuß gelaufen, eigene Schuhe besaß er nicht. Als der große Tag gekommen war, trieb Iwan die Kühe früh auf die Weide, um zurück zu sein, bevor die Eltern zum Markt aufbrachen. Er frühstückte, legte seine Sonntagskleider zurecht und wusch sich Hals und Ohren. Erst dann teilte er dem Vater mit, dass er mit in die Stadt fahren werde, um sich in der Schule anzumelden.
„Wo?! In welcher Schule? Die Schule werd’ ich dir austreiben! Du bleibst zu Hause und gibst Ruh!“ Der Vater reagierte wie erwartet.
Doch der Junge war gewappnet. So laut er konnte, begann er zu schreien und zu klagen – die Nachbarn sollten hören, dass es im Haus Streit gab. Der Vater wurde wütend, langte dem Sohn eine, Tränen flossen, der Vater fluchte. Die Mutter schwieg, vielleicht wünschte sie sich insgeheim sogar, dass der Sohn Priester würde. Als die Mutter dem Vater nicht beipflichtete, schrie Iwan noch lauter. Auf das Geschrei hin liefen die Nachbarn zusammen und versuchten den Vater davon zu überzeugen, den Jungen ins Gymnasium zu schicken. Doch er gab nicht nach.
Schließlich spannte der Vater die Pferde ein und fuhr los. Iwan lief dem Wagen mit Geheul hinterher, durch das ganze Dorf und noch weiter, vorbei an den Bauern auf den Feldern. Wie auf Kommando richteten die sich auf, um das seltsame Schauspiel zu beobachten, und schüttelten stumm den Kopf. Das Gesicht des Vaters wurde röter und röter, am liebsten wäre er vor Scham im Erdboden versunken, doch von seiner „Pädagogik“ ließ er trotzdem nicht ab. Dazu zählten auch die Schläge, die er seinen Söhnen, wenn sie nicht gehorchten oder auch einfach so, „damit sie nicht übermütig wurden“, regelmäßig verpasste.
Sie erreichten die Stadt. Bei der Kirche trat gerade der Pfarrer auf die Straße, der Iwan noch aus der Dorfschule kannte. Müde vom Laufen hinter dem Wagen war Iwan verstummt, doch nun stimmte er sein Geschrei wieder an und verschmierte die Tränen auf seinem staubigen Gesicht. Der Priester fragte, was los sei. Sowohl Vater als auch Sohn erzählten ihre Version der Geschichte. Dem Vater zitterten die Hände, vor Zorn brachte er kaum einen ganzen Satz heraus. Iwan dagegen sprach in langen, wohlkonstruierten, im Voraus zurechtgelegten Sätzen und versuchte, den Geistlichen damit auf seine Seite zu ziehen.
Der Pfarrer dachte kurz nach und erinnerte sich, dass Iwan wirklich ein fleißiger und begabter Schüler gewesen war, und auch,