„Moin“, sagte Wiebke und nahm einen Schluck Tee. Der Honig schmeichelte ihrem Hals. Der Polizist, der ihnen am nächsten stand, nickte ihnen zu. Wiebke kannte den uniformierten Kollegen flüchtig. Jens Carstensen, ein strohblonder, hagerer Typ mit wachen blauen Augen. Wiebke registrierte mit einem einzigen Blick, dass der Kollege ihm viel zu ausgeschlafen erschien. Sie schmunzelte. „Und?“
Der Kollege vom Streifendienst winkte Wiebke und Petersen über das Absperrband außerhalb der Hörweite aller Schaulustigen. „Warum ihr hier seid, wisst ihr ja“, erklärte er. „Attentat auf Hans Olaf Berger. Er hat am Fenster gestanden, als ihn der tödliche Schuss traf, stürzte in die Tiefe und war sofort tot.“
Wiebke folgte seinem Blick. Unter dem großen Fenster glitzerten Scherben. Eine Gestalt lag darunter in einem Meer aus Glassplittern und Scherben. Arme und Beine standen in verrenkter Haltung vom Körper ab. Man hatte eine dunkle Folie über dem Leichnam ausgebreitet.
„Warum steht man mitten in der Nacht am Fenster?“, brummte Petersen und kratzte sich am Hinterkopf.
„Womöglich, weil der Hund angeschlagen hat“, erklärte Carstensen. „Das haben Nachbarn berichtet: Erst das Hundegebell, dann der Schuss und das Klirren der großen Fensterscheibe und dann der Schrei einer Frau.“
„Also gibt es eine Zeugin?“ Wiebke warf Petersen einen schnellen Blick zu.
„Ja, Berger war wohl nicht alleine zum Zeitpunkt des Attentates.“
„Seine Frau muss unter Schock stehen“, vermutete Wiebke.
Carstensen schüttelte mit säuerlicher Miene den Kopf. „Nee, die wird wohl eher vor Wut schäumen, wenn sie davon erfährt. Es war die Geliebte von Hans Olaf Berger, die mit ansehen musste, wie ihr Lover erschossen wurde. Eine gewisse Annika Rüther.“
„Sieh einer an“, bemerkte Petersen. „Vielleicht war es sogar die gehörnte Ehefrau, die sich so rächen wollte.“
„Das herauszufinden ist euer Part, Kollegen“, grinste der Streifenpolizist.
„Das werden wir tun, worauf du dich verlassen kannst“, nickte Petersen. Er wandte sich Wiebke zu. „Dann mal los, lass uns mal nach dem Rechten schauen.“
Wiebke zögerte. „Wie geht es der Geliebten von Berger?“, fragte sie.
„Annika Rüther hat Schnittwunden an den Füßen, weil sie wohl barfuß in den Scherben gestanden hat. Prellungen an Knien und Ellbogen, weil sie sich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit bringen wollte. Und sie steht natürlich unter Schock, wird vom Notarzt und Seelsorger im RTW versorgt.“ Der junge Polizist zeigte auf einen der beiden Rettungswagen. Wiebke schaute an Carstensen vorbei und ließ die Szenerie auf sich wirken. Eine mannshohe, blickdichte Hecke schützte die Hausbesitzer vor neugierigen Blicken. Nur durch das offen stehende Tor konnte man vom Weg aus einen Blick vom großzügig angelegten Grundstück der Bergers erhaschen. Der Rasen war penibel kurz geschoren, eine breite, gepflasterte Einfahrt führte vom Tor aus vor das Portal. Das Haus von Hans Olaf Berger war zweigeschossig. Der modern anmutende Bau wurde von großen Fensterflächen beherrscht. Vor dem Eingang gab es ein Vordach, das von zwei massiven Steinsäulen gestützt wurde. Darüber befand sich eine Art Balkon, daneben eine große Fensterfront, die zerstört worden war. Der Wind verfing sich in den bodentiefen Vorhängen. Im Haus selber brannte trügerisch anheimelndes, dezentes Licht. Wiebke vermutete, dass man von dort aus über die Salzwiesen auf das Meer blicken konnte.
„Zeugen?“, fragte sie, ohne sich von dem Anblick loszureißen.
„Indirekt“, antwortete Carstensen. „Barbara Gerlach bewohnt eines der benachbarten Ferienhäuser. Gesehen hat sie wohl nichts, aber sie wurde vom Lärm geweckt, als das große Fenster zu Bruch ging.“
„Kein Auto, das sich mit hohem Tempo entfernt hat, nichts?“, versuchte es Petersen.
„Nein, absolut nichts Auffälliges.“ Carstensen schüttelte den Kopf. „Womöglich befindet sich der Schütze noch in der Nähe.“
„Wir sollten einen Heli kommen lassen“, schlug Petersen vor.
„Schon dabei.“ Wiebke zückte das Handy und forderte einen Hubschrauber an, der die Gegend mit einer Wärmebildkamera absuchte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Täter so auf der Flucht gestellt wurde. „Und wir brauchen Verstärkung, die sich um die Anwohner kümmert“, sagte sie an Carstensen gewandt.
„Das habe ich bereits veranlasst, Kollegen. Müsste jeden Moment eintreffen.“
„Sehr gut“, lobte Wiebke. „Dann würde ich jetzt gern ins Haus.“
„Sprich das mit Piet ab, dazu kann ich euch nichts sagen.“
„Wird gemacht.“ Wiebke nickte Petersen zu. Seite an Seite marschierten sie die Auffahrt zum Haus hinauf. Sie ließen Carstensen zurück. Wiebke erhoffte sich einen vorläufigen Bericht von dem schrulligen Kriminaltechniker, fürchtete aber, dass er noch nicht viel zum Geschehen sagen konnte.
„Piet wird sich bedanken, wenn wir ihm jetzt schon auf den Sack gehen“, raunte Petersen und sprach Wiebkes Gedanken aus.
„Da muss er durch, fürchte ich.“ Sie hatte zuerst die offen stehende Haustür erreicht, Petersen stand einen Schritt hinter ihr und überließ ihr den Vortritt. Wiebke blieb an der Schwelle stehen und rief nach Piet Johannsen, dem Leiter der Husumer Kriminaltechnik.
„Wer stört?“, ertönte eine dumpfe Stimme aus dem Obergeschoss.
„Sabbel nich‘, trau dich runter“, rief Petersen nach oben. Einen Moment später kam Johannsen die Treppe herunter. Er trug einen weißen, faserfreien Overall.
„Ausgeschlafen?“
„Abgebrochen.“ Wiebke hatte keine Lust auf Sprüche. „Hast du schon was für uns?“
„Zwei Weingläser, eine fast geleerte Pulle Rotwein, eine verrammelte Wolldecke auf dem Sofa und unzählige Scherben.“
Wiebke hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Dürfen wir trotzdem gucken? Ich würde mir gern einen Überblick vom Tatort verschaffen.“
„Wenn ihr auf dem Trampelpfad bleibt und nichts anfasst.“
„Wie lange sind wir bei dem Trachtenverein, für wie blöd hältst du uns, Piet?“ Petersen hob eine Augenbraue.
„Kommt schon, damit ich weitermachen kann.“ Johannsen gab ihnen ein Zeichen. Sie folgten ihm in den quadratischen Flur des Hauses. Wiebke fiel der kühle Einrichtungsstil sofort auf. Die typischen Dekoelemente anderer Wohnhäuser gab es hier nicht – keine Buddelschiffe auf der Fensterbank, keine hölzernen Möwen und keine großen Bilder mit Leuchttürmen, nichts. Stattdessen neben der Tür und an der Treppe ins Obergeschoss übergroße Gemälde mit abstrakten Motiven, die Wiebke nicht zuordnen konnte. Sie war keine Kunstkennerin, konnte einen farbenfrohen Kandinsky kaum von den Werken eines Marc Chagall unterscheiden. Kurz schloss sie die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. Es roch nach Reinigungsmitteln.
„Hier – anziehen bitte.“ Johannsen war vor einer Alukiste in die Hocke gegangen und fischte zwei Einmalanzüge, Handschuhe und Überzieher für die Schuhe heraus. Beides hielt er Petersen und Wiebke hin.
„Muss das sein?“, maulte Petersen.
Anstelle einer Antwort stöhnte Piet Johannsen gequält auf.
Petersen zwängte sich umständlich in den Overall. Wiebke konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nachdem sie in die dünnen Overalls geschlüpft waren und die Überzieher über den Schuhen trugen, folgten sie Johannsen über die breite Treppe in das Obergeschoss des luxuriösen Hauses.
Der kühle Einrichtungsstil aus dem Erdgeschoss setzte sich hier oben fort. Berger schien die kühle Eleganz geschätzt zu haben. Wiebke stellte die Wertigkeit der Einrichtung nicht infrage, war aber sicher, dass sie sich in diesem Haus niemals hätte wohlfühlen können. Für ihren Geschmack durfte die Einrichtung etwas