Der Mann am Fenster blickte jetzt genau in seine Richtung. Sein Herz raste. Jetzt musste es schnell gehen. War er aufgeflogen? Gab es einen Bewegungsmelder, der ungebetene Gäste gleich anzeigte? Eine zweite Kamera existierte seines Wissens nicht.
Noch während der Besitzer der Villa ins Dunkel starrte, riss der ungebetene Gast die Hand, mit der er die Waffe umklammert hielt, in die Höhe. Noch in der gleitenden Bewegung entsicherte er und legte den Zeigefinger um den Abzug, zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, spürte den mechanischen Widerstand, dann zog er durch. Um den Rückschlag so gering wie möglich zu halten, stützte er den ausgestreckten Arm mit der Waffe ab, sah das Mündungsfeuer aufblitzen, dann ging die große Fensterscheibe mit einem ohrenbetäubenden Klirren zu Bruch. Das Glas bot dem Hausherrn keinerlei Schutz.
Unter das Prasseln des Scherbenregens mischte sich der Schmerzensschrei seines Opfers. Obwohl der Mann versucht hatte, sich mit einem Sprung nach hinten in Sicherheit zu bringen, gelang es ihm nicht, der tödlichen Kugel zu entgehen.
Der spitze Schrei der Frau ging im Lärm unter. Sie hatte also alles mitbekommen, war zur Zeugin geworden.
Gut so.
Als der Mann am Fenster die Arme hochriss und beide Hände flach vor die Brust presste, wusste der Schütze, dass er sein Ziel nicht verfehlt hatte. Er wich zurück und beobachtete das Schauspiel aus sicherer Deckung. Sein Opfer ruderte wild mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und stürzte aus dem Fenster in die Tiefe.
Seine Knochen brachen mit einem hässlichen Geräusch, als er hart auf dem Pflaster der Einfahrt vor dem Haus aufkam und sich nicht mehr rührte. In wenigen Sekunden breitete sich eine große Blutlache um den leblosen Körper aus.
Der Schütze verzog angewidert das Gesicht. Eigentlich konnte er kein Blut sehen. In verrenkter Haltung lag der Mann da und rührte sich nicht mehr. Nachdem ein letztes Wimmern über seine Lippen gekommen war, kehrte bedrückende Stille ein, die erst durch den spitzen Angstschrei der Frau durchschnitten wurde. Sie kreischte, stürzte zum zerstörten Fenster, riskierte dabei, auch zur Zielscheibe für den Schützen zu werden, stand barfuß in dem Scherbenhaufen, hielt beide Hände vor das Gesicht und rief einen Namen.
Doch der, den sie rief, rührte sich nicht. Er würde nicht mehr aufstehen.
Mit einem zufriedenen Grinsen steckte der Schütze die Waffe zurück in die Jacke. Das Metall war warm. Schnell duckte er sich in den Schatten der Hecke, eilte in gebückter Haltung davon, verschwand um die nächste Häuserecke, sah im Augenwinkel, wie in einem der Nachbarhäuser Licht aufflammte. Die Nachbarn waren wach geworden. Jetzt war es höchste Zeit zu verschwinden. Seine Mission hatte begonnen.
EINS
Wenningstedt/Sylt, drei Monate zuvor
Er wusste nicht, wie lange er schon wach neben ihr lag. Müdigkeit verspürte er trotz der vorgerückten Stunde nicht, wahrscheinlich lag es daran, dass sein Körper von Endorphinen nur so strotzte. Er hielt kurz den Atem an und lauschte in die Nacht. Irgendwo an der Rückseite des reetgedeckten Hauses klapperte ein Fensterladen. Unheilvoll pfiff der Wind ums Haus, doch das schien sie nicht im Geringsten zu stören. Zusammengerollt wie ein Baby lag sie neben ihm und schlief tief und fest. Seine Blicke störten ihre Nachtruhe nicht, so nutzte er die Gelegenheit, um sie verliebt zu betrachten. Das Licht des Mondes drang durch den Spalt der bodentiefen, blauweiß gemusterten Vorhänge und ließ ihre Haut wie Samt wirken. Verzückt musterte er ihre wunderschöne Kehrseite, hätte am liebsten die Hand ausgestreckt, um sie zu berühren, um mit den Fingerkuppen zärtlich die Konturen ihres Körpers nachzuzeichnen. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu streicheln, doch um nichts auf der Welt wollte er ihren tiefen Schlaf stören. Kurz schloss er die Augen und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Sie war, nachdem sie leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten, glücklich und erschöpft in seinem Arm vom Schlaf übermannt worden. Obwohl er selber müde gewesen war, hatte er den Moment ausgekostet, sie an seiner Schulter zu spüren, ihrem Atem zu lauschen und ihren Duft zu genießen. Irgendwann hatte sie sich zur Seite gedreht, um ihm den Rücken zuzuwenden. So lag er hinter ihr ebenfalls auf der Seite, den Kopf auf den linken Arm gestützt, und sah sie an.
Er war so glücklich wie nie zuvor in seinem Leben, war mit Anfang vierzig endlich angekommen, hatte die Frau gefunden, mit der er alt werden wollte. Zahlreiche Frauen hatte er in den letzten Jahren gehabt, kein Wunder bei seinem Aussehen und seiner offenen Art, die gut bei den Frauen ankam. Doch bisher hatte er die Richtige nicht gefunden. Jetzt war alles anders.
Angekommen, hallte es in seinem Kopf. Ich bin angekommen.
Er atmete tief durch und inhalierte ihren Duft. Sie roch nach Kokosnuss und exotischen Früchten. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihn, er hatte nie an die Liebe seines Lebens geglaubt, hatte stets gehofft, die Hoffnung an der Seite anderer Frauen aber schnell wieder verworfen. Wie sehr er sich geirrt hatte, dachte er jetzt.
Jetzt ist alles perfekt.
Im nächsten Moment legte sich ein Bleigürtel um seine Brust, eine undefinierbare Angst befiel ihn, als er an die Grausamkeiten, die das Leben mit sich brachte, dachte. Das glückliche Lächeln auf seinen Lippen gefror. Eine schwere Krankheit, ein Unfall, der sie aus seinem Leben riss und damit alles zunichtemachte, was den Sinn seines Daseins ausmachte. Er versuchte, die düsteren Gedanken zu verdrängen, doch es gelang ihm nur schwer. So nahm er sich vor, alle Gefahren, die ihr gemeinsames Glück zunichtemachen könnten, bis aufs Blut zu bekämpfen.
Ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Erschrocken hielt er die Luft an und lauschte mit geneigtem Kopf ins Dunkel des Zimmers.
Es war ihr Haus, doch er wusste, dass das mit Reet gedeckte Gebäude in Sturmnächten eigenartige Laute abgab. Die Dielenböden knarzten, als würde sich jemand darauf bewegen, das Gebälk unter dem Reet knackte, all das machte ihm keine Angst.
Das Geräusch war anders gewesen.
Ein schrilles Poltern, fast, als würde Glas splittern. Unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf, ob im Haus eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen war.
Sein Körper versteifte sich, als er den Atem anhielt und in die Stille lauschte. Besorgt streifte sein Blick ihren Körper. Doch sie schlief tief und fest.
Wieder riss ihn ein Geräusch aus seinen Beobachtungen. Es kam von unten, war schwer einzuordnen.
Jemand war im Haus.
Die Härchen auf den Unterarmen richteten sich auf. Er musste nach dem Rechten sehen, musste sie beschützen. Hastig stemmte er seinen Oberkörper in die Höhe. Seine Hände zitterten, als er die leichte Decke zur Seite schlug und sich auf die Bettkante setzte. Eilig erhob er sich, um mit der rechten Hand nach den Boxershorts zu fischen, die neben dem Bett lagen. Das leise Quietschen des Bettgestells klang überlaut. Er hoffte, dass sie nicht doch noch aufwachte. Jetzt verfluchte er den Umstand, dass sich die schwere Taschenlampe im Wagen befand. Schon zigmal hatte er sich vorgenommen, sie mit ins Haus zu nehmen, um sie für den Notfall auf dem Nachtschrank zu deponieren. Er hielt den Atem an und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.
Sie hatte einen festen Schlaf und nicht mitbekommen, dass er aufgestanden war und eilig in die dunkelblau karierten Boxershorts schlüpfte.
Gut so.
Ein wenig entspannten sich seine Gesichtszüge. Barfuß durchquerte er das Schlafzimmer, blieb an der Tür ein letztes Mal stehen, um nach ihr zu schauen. Sie schlief.
Im Zeitlupentempo drückte er die Türklinke nieder, öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt und steckte den Kopf hinaus, um ins Dunkel des Hauses zu lauschen.
Wieder hörte er ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Es war aus der Küche im Erdgeschoss gekommen. Seine Hand zitterte, als er sie auf das hölzerne Geländer der kleinen Treppe legte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Stufen jetzt nicht knarrten, so, wie sie es sonst taten, wenn sich das Wetter änderte. Draußen pfiff ein eisiger Wind