„Ja?“ Mit fragender Miene legte sie den Kopf schräg, blies sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren.
Er benötigte einen Moment, bis er in der Realität angelangt war und registrierte, dass er die schreckliche Szene, die er eben erlebt hatte, offenbar nur geträumt hatte. Alles war so real gewesen, so grausam. Sein Herz raste, sein Mund war trocken. Er schluckte, dann rang er sich ein Lächeln ab.
„Ich glaube, ich hatte einen schrecklichen Albtraum“, stammelte er tonlos. Er starrte sie an wie einen Geist, konnte nicht glauben, dass sie lebte.
„Das glaube ich auch“, sagte sie einfühlsam, krabbelte an den Bettrand und zog ihn zu sich. „Ich lebe“, hauchte sie ihm zwischen zwei Küssen ins Ohr. „Und wie ich lebe.“ Sie schickte ihre Hände auf Wanderschaft, zog mit ihren Fingerkuppen größer werdende Kreise auf seinem Oberkörper, hauchte ihm Küsse auf die Haut und sorgte dafür, dass der Albtraum verblasste. „Was auch immer es war, ich bin lebendig, sehr lebendig sogar, und ich habe Lust auf dich.“
Er spürte, wie die Hitze in seine Lenden stieg, umarmte sie, genoss ihre Nähe und erwiderte ihre Küsse. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte ihn eine Frau derart um den Verstand gebracht, nie zuvor hatte er eine solche Leidenschaft gespürt. Es war, als hätten sie sich gesucht und gefunden, es schien, als wären sie füreinander gebaut.
Als sie ihren Kopf in seinen Schoß sinken ließ und ihn mit ihren Lippen umschloss, war der Albtraum schon fast nicht mehr greifbar. Er legte den Kopf in den Nacken und gab sich ihren Liebkosungen hin. Als sie zurück ins Laken sank und ihm fordernd das Becken entgegenstreckte, war es ihm, als hätte er diesen schrecklichen Albtraum nie zu zuvor gehabt. Es gab nur noch sie beide in dieser Nacht, es schien, als wäre die ganze Welt um sie herum versunken. Als ihrer Körper miteinander verschmolzen, hatte er längst vergessen, warum er kurz vorher aufgewacht war.
VIER
Husum, Süderstraße
„Weißt du“, sagte Petersen, als er eine Viertelstunde später in Wiebkes kleinen Fiat stieg und ihr die Adresse des Einsatzortes genannt hatte, „was mir am meisten stinkt?“ Umständlich schnallte er sich an und nahm dankbar den Thermobecher mit Kaffee entgegen, den sie ihm reichte. Wiebke beantwortete die Frage ihres Partners nicht. Sie steuerte den Panda durch die nächtlichen Straßen von Husum und ließ Petersen reden.
„Mir stinkt es, dass wir aus dem Bett geklingelt werden, die Drecksarbeit machen dürfen und nur die Vorhut für die Kollegen aus Flensburg sind.“
„Das ist nun mal unser Job“, erwiderte sie und gab ihm in Gedanken recht. Wiebke wusste, wovon ihr Partner sprach. Es würde keine zwei Stunden dauern, bis ihre Kollegen vom K 1 aus Flensburg anrollten und sich den Mordfall unter den Nagel rissen. Seitdem die Kriminalpolizei Husum und Flensburg vor Jahren fusioniert wurden, galt es, Hand in Hand zu arbeiten. „Aber wir sind schon vor Ort, und wir kennen uns hier aus.“
„Ja ja, die Ortskenntnisse.“ Petersen winkte ab, nahm einen Schluck von seinem Kaffee, verbrannte sich prompt die Lippen und fluchte ungestüm. „Dabei kennen wir unser Opfer – im Gegensatz zu den Flensburgern. Wir wissen, wer Hans Olaf Berger war und was er für Husum bedeutet hat.“
„Und wir wissen, dass er nicht überall beliebt war“, stimmte Wiebke ihm zu. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie Jan Petersen das Smartphone aus der Tasche seiner Lederjacke zog und den Namen des Mordopfers in eine Suchmaschine eingab. Im Widerschein des Handy-Displays schimmerte sein unrasiertes Gesicht bläulich.
„Da“, sagte Petersen triumphierend und hielt das Handy hoch. „Die Mäuler hat man sich über ihn zerrissen, weil er angeblich in krumme Geschäfte verwickelt war, weil er immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht wurde und weiß der Geier was.“
„Das sind doch alles Halbwahrheiten“, entgegnete Wiebke. „Was wissen wir wirklich über Berger?“ Sie dachte einen Moment lang nach und gab sich dann selbst die Antwort. „Er war ein einflussreicher
Geschäftsmann. Ihm gehörte eine Baufirma, zahlreiche Geschäfte, und er saß im Vorstand von einem Altenheim. Ach ja, er war Geschäftsführer der Messegesellschaft, die sich vor einigen Jahren mit der Hamburger Messe um die Windkraft-Ausstellung gestritten hat.“
„Und er wurde schon öfters wegen Steuerhinterziehung angeklagt, ihm wurden wechselnde Damenbekanntschaften nachgesagt, und man munkelt von Bestechung, um Geschäfte durchsetzen zu können.“
„Nachweisen konnte ihm niemand etwas“, nickte Wiebke, die sich an die Berichte in den Husumer Nachrichten erinnerte. Sie überlegte, was sie von seinem Privatleben wusste. Viel war es allerdings nicht. „Soweit ich weiß, war Berger verheiratet, Kinder gibt es aber wohl keine“, fasste Wiebke zusammen. Sie ließ den Panda über das Kopfsteinpflaster der verlassenen Norderstraße und den Markt rollen. Der Tine-Brunnen und die Marienkirche waren angeleuchtet, der Marktplatz lag verwaist zu ihrer linken Seite.
„Da“, machte Petersen und deutete nach rechts, als sie das Einkaufszentrum auf der rechten Seite passierten. „Das würde wohl auch nicht existieren, wenn Berger nicht seine schmutzigen Hände im Spiel gehabt hätte.“
Wiebke seufzte. „Fakt ist, dass Berger seinerzeit als einer der Investoren viel Geld in das Bauvorhaben gesteckt hat. Ob da alles mit rechten Dingen zuging, weiß wohl kaum jemand.“
„Fakt ist aber auch, dass Hans Olaf Berger eine schillernde Person im Husumer Geschäftsleben war, die nicht nur Freunde hatte“, resümierte Jan Petersen und nippte an seinem Kaffee.
„Was die Suche nach dem oder den Tätern nicht gerade leichter macht“, stimmte Wiebke ihrem Partner zu.
„Meine Rede“, nickte Petersen.
„Damit können sich dann die Kollegen aus Flensburg beschäftigen“, erwiderte Wiebke. Fast war sie ein wenig erleichtert darüber, denn sicherlich würde niemand aus Bergers Dunstkreis erfreut sein, wenn die Polizei unbequeme Fragen stellte. Einflussreiche Menschen konnten sich die besten Anwälte leisten, die den Ermittlern die Arbeit unnötig erschwerten.
Wiebke bog kurz, nachdem die Schobüller Straße zur Nordseestraße wurde, nach links in einen schmalen Weg ab. Als der kleine Fiat durch ein Schlagloch rumpelte, rutschte Petersen das Smartphone aus der Hand. Fluchend bückte er sich in den Fußraum, um nach dem Handy zu suchen. „Verdammt – wo wohnt Berger denn hier? Das ist ja voll in der Pampa“, bemerkte er.
Wiebke musste grinsen. „Fast so, als müsse er sich in seiner Freizeit verstecken.“ Jetzt verlief der Westerweg fast schnurgerade auf die Salzwiesen zu. Den Einsatz-
ort sahen sie von Weitem. Das Blaulicht der Streifenwagen zuckte gespenstisch durch die Nacht. Am Ende der Straße hielt sich Wiebke links. Die Straße wurde schmaler und führte parallel an der Salzwiese entlang. Einzelne Häuser und ein heruntergekommener Bauernhof, weiter hinten reetgedeckte Häuschen mit Backsteinfassaden.
Das Haus der Bergers befand sich auf der linken Seite. Es strahlte auf den ersten Blick schon den Reichtum und die Macht seines Besitzers aus. In der Einfahrt standen zwei Rettungswagen, ein Streifenwagen und der Sprinter der Kriminaltechnik. Trotz der nachtschlafenden Stunde hatten sich zahlreiche Schaulustige am Absperrband versammelt. Es hatten sich Gruppen gebildet, die in teils heftige Diskussionen verwickelt waren. Einige hielten ihre Smartphones hoch, um zu fotografieren und zu filmen.
„Ich kotz gleich im Kreis“, brummte Petersen.
Wiebke spürte auch eine gewisse Abneigung gegen die Gaffer. „Das ist unsere schöne multimediale Zeit“, versuchte sie, sich diplomatisch auszudrücken.
„Da ist der Mord an Berger schon auf YouTube, bevor wir die ersten Zeugen befragen können“, ächzte Petersen kopfschüttelnd.
„Die Kollegen vom Streifendienst halten die Gaffer ja schon auf Distanz.“
„Platzverweise sollten sie erteilen, damit wir in Ruhe unsere Arbeit machen können“, maulte Petersen. Wiebke gab ihm in Gedanken recht. Sie griff