Ein scharrendes Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Jetzt war es eindeutig: Schritte in der Küche, vorsichtig gesetzt. Offensichtlich war der Fremde durch das Küchenfenster ins Haus eingedrungen. Das hatte also
das klirrende Geräusch verursacht, das ihn erschreckt hatte.
Er konnte hören, wie die Sohlen des Einbrechers über Glasscherben streiften und knirschende Geräusche erzeugten.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Einbrecher waren auf der Insel eher selten anzutreffen – zu kompliziert war den Tätern die Flucht mit dem Sylt-Shuttle, zu groß die Gefahr, noch am Bahnhof in Westerland von der Polizei festgesetzt zu werden. Trotzdem gab es in letzter Zeit immer wieder Einbrecher, die sich in den verwaisten Dünenhäusern wertvolle Beute versprachen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass ein Großteil der Immobilien auf der Insel nur während der Feriensaison bewohnt wurde. Jetzt, im Herbst, waren zahlreiche der prächtigen Häuser verlassen. Sie standen oft wochenlang leer und wurden nur von Hausmeistern betreut, die regelmäßig kamen, um nach dem Rechten zu sehen. Die Kriminalität auf Sylt hielt sich in Grenzen, von einer heilen Welt wollte hier trotzdem niemand reden.
Warum habe ich mir immer noch keinen Baseballschläger ans Bett gestellt?, fragte er sich mit einer Mischung aus Wut und Angst, als er eine Hand auf die Türklinke legte. Was, wenn der Einbrecher bewaffnet ist? Würde es ihm gelingen, den Fremden in die Flucht zu schlagen? Hektisch blickte er sich um. Sein Blick fiel auf ihren großen „Schietwetter“-Regenschirm, der am Haken der Garderobe hing.
Besser als nichts, dachte er und streckte die Hand nach dem Schirm aus. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff, bereit, damit zuzuschlagen. Nachdem er ein letztes Mal tief durchgeatmet hatte, hob er das rechte Bein und trat mit voller Wucht die Küchentür auf. Sie würde ihm verzeihen, wenn er das Türblatt beschädigte, da war er sicher. Immerhin ging es darum, den Einbrecher zu stellen und sie zu schützen.
Mit einem Knall schlug die Tür an die dahinterliegende Wand. Spätestens jetzt ist sie aufgewacht, durchzuckte es ihn. Entgegen seiner Befürchtung regte sich oben nichts. Sie hatte einen festen Schlaf.
Das Holz des Türblatts scharrte über Glasscherben, um kurz darauf zurückzupendeln. Mit einem einzigen Satz sprang er in die Küche und hoffte, das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Er registrierte das zerstörte Fenster, dann fiel sein Blick auf den Stein, der in der Mitte des Raums am Fußboden lag – die Tatwaffe. Im selben Moment tauchte der Schatten in seinem Augenwinkel auf. Jemand hatte sich versteckt, um jetzt mit einem Sprung seine Deckung zu verlassen.
Während er noch herumwirbelte, dabei den Arm mit dem Schirm nach oben riss, spürte er den entsetzlichen Schlag am Hinterkopf. Im Bruchteil einer Sekunde sah er grelle Blitze vor den Augen auftauchen, dann fühlte es sich an, als würde sein Körper von innen heraus explodieren. Ihm wurde es heiß und kalt, bevor er mit einem ächzenden Laut in die Knie ging. Dass er mit dem Gesicht in die Scherben auf dem Boden fiel, spürte er schon nicht mehr.
*
Als er zu sich kam, schmerzte ihm jeder Knochen. Im Mund einen pelzigen Geschmack, die Augenlider schwer wie Blei, wünschte er sich im ersten Moment zu sterben. Übelkeit stieg in ihm auf, eine Sekunde lang fürchtete er, dass er sich übergeben musste. Es dauerte einen Moment, bis die Erinnerung sich schmerzhaft in sein Bewusstsein brannte. Die durchwachte Nacht mit der Liebe seines Lebens, die eigenartigen Geräusche in der Küche, das eingeschlagene Fenster, der Überfall. Er öffnete die Augen, blinzelte und wurde vom grellen Licht der Küchenlampe geblendet.
Vom Täter keine Spur.
Sein Kopf fiel zur Seite. Als er die Muskeln anspannte, knirschte es unter ihm. Er lag mitten im Scherbenhaufen der eingeschlagenen Fensterscheibe.
Ein brennender Schmerz in der Stirn brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Vorsichtig tastete er nach der schmerzenden Stelle. Ein harter Gegenstand steckte wie die spitze Klinge eines winzigen Messers in seinem Kopf. Er fixierte die Scherbe mit Daumen und Zeigefinger, biss die Zähne zusammen und stöhnte auf, als der Schmerz an Intensität zunahm und drohte, ihm den Verstand zu rauben. Blut trat aus der Wunde aus und besudelte seine Finger. Doch es gab kein Zurück mehr. Wenn er wollte, dass die Qual aufhörte, musste der Fremdkörper aus seinem Körper verschwinden. Fest packte er zu, hielt die Luft an und spürte dennoch die Hitze, die sich schlagartig in ihm ausbreitete. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog er an dem Splitter in der Stirn. Ein Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle, dann betrachtete er den Gegenstand in der blutverkrusteten Hand. Eine Glasscherbe, scharf wie ein Messer und spitz wie ein Dolch.Gut zwei mal drei Zentimeter groß. Wütend warf er die Scherbe zu Boden.
Sekundenlang schloss er die Augen und versuchte, sich zu sammeln.
Ein eisiger Luftzug wehte in die Küche, verfing sich in der weißblau karierten Tischdecke und blähte sie auf. Im Zeitlupentempo wandte er den Kopf und öffnete die Augen wieder. Das Stofftuch schien ein seltsames Eigenleben zu entwickeln. Ein unheimliches Schauspiel. Langsam gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen.
Der Schmerz wurde von seiner Sorge um sie verdrängt. War ihr etwas zugestoßen? Er versuchte, den Atem anzuhalten, lauschte. Im Haus herrschte Stille. Befand sich der Einbrecher noch hier, oder war er längst über alle Berge?
Ein gequälter Laut kam über seine Lippen. Mit schmerzverzerrter Miene richtete er sich auf. Vorsichtig tastete er über die dicke Beule an seinem Hinterkopf. Sofort spürte er eine klebrige Substanz zwischen den gespreizten Fingern. Sein eigenes Blut. Er verdrängte den Schmerz, so gut es ging. Die Angst um sie trieb ihn vorwärts. Er musste zu ihr, nach dem Rechten sehen. Schwerfällig richtete er sich auf. Jeder Muskel bereitete ihm Höllenqualen.
Sekundenlang kämpfte er gegen den Schwindel an, umklammerte die Lehne des Küchenstuhls, sammelte Kräfte und atmete tief durch.
Schwankend verließ er die Küche. Wenn ihr etwas zugestoßen war, würde er sich dafür die Schuld geben, dann würde er versagt haben. In seiner Angst spürte er gar nicht, dass er barfuß inmitten der Glasscherben gestanden hatte und jetzt mit jedem Schritt eine Blutspur durch das Haus zog. Mit zitternden Händen umschloss er das Treppengeländer. Mühsam zog er sich nach oben, jede Stufe ein Kampf. Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Schwer kämpfte er gegen die drohende Ohnmacht an.
Noch eine Schwäche wollte er sich nicht erlauben. Er musste da sein für sie, wollte sie beschützen. Allein der Gedanke, dass er möglicherweise bereits zu spät kam, trieb ihn voran.
Dunkel lag der obere Flur jetzt vor ihm. Er hielt am Treppenabsatz inne, um zu lauschen. Kein Laut drang an seine Ohren. War der Einbrecher hier oben, war er bei ihr?
Der Gedanke trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. So schnell es ging, setzte er seinen Weg zum Schlafzimmer fort. Hier überholte ihn das Grauen, denn der Anblick, der sich ihm bot, entlockte seiner Kehle einen dumpfen Laut.
Sie war da. Lag neben dem Bett, fast so, als wäre sie herausgefallen. Auf dem Rücken, den starren Blick an die Decke des Schlafzimmers gerichtet, der Mund einen Spalt breit geöffnet. In ihrem Blick lag die pure Todesangst. Grotesk standen Arme und Beine von ihrem Körper ab, die Beine gespreizt, die Arme angewinkelt, der rechte Oberarm nach unten, der linke nach oben.
Fast wie ein Hakenkreuz, durchzuckte es ihn. Wie gebannt blickte er in ihr Gesicht, versuchte, Leben in ihren gebrochenen Augen zu erkennen, eine Regung an ihrem Körper zu registrieren.
Vergeblich. Der Einbrecher war schneller gewesen, hatte es sich zunutze gemacht, dass er ihn außer Gefecht gesetzt hatte.
Alles, nur das nicht, schrie alles in ihm, während er sie aus tränenverschleierten Augen betrachtete.
Erst im zweiten Augenblick wurde ihm klar, dass sie inmitten einer Blutlache lag. Mit einem Schrei brach er zusammen.
Ich habe versagt.
Sie war gestorben,