Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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      In der Folgeanweisung vom gleichen Tag verlangte Pašić von seinem Londoner Geschäftsträger: »Drücken Sie Grey persönlich meine lebhafteste Dankbarkeit für seine korrekte Auffassung unserer vitalen Interessen bezüglich des Ausganges zum Adriatischen Meere über serbisches Territorium zu einem Hafenplatz aus. Diesem Bedürfnis würde einzig und allein Durazzo entsprechen … welches auch einst serbisch gewesen sei.«145 Hier bewies Pašić brillante Geschichtskenntnisse. Tatsächlich war Durazzo in seiner wechselvollen Vergangenheit 1336 an Serbien gefallen, um gleich darauf von Neapel vereinnahmt zu werden. Aus Sicht Pašićs könne Serbien als Binnenstaat nur mit einem solchen Hafen auf völlige ökonomische und politische Unabhängigkeit rechnen, »da ein solcher Hafen Serbien erst den gleichberechtigten Verkehr mit anderen Staaten ermöglichen würde.«146 Träumte Pašić hier schon von einer Flottenparade in der Adria?

      Auch Ledebours Vorwurf, den Österreichern willenlose Trabantendienste zu leisten, wies Kanitz zurück und zitierte den Fürsten von Bülow, der vor Jahren an gleicher Stelle auf diesen Vorwurf antwortete: »Nicht in der Ansicht auf einen territorialen Gewinn liegt unser Interesse an der Balkanfrage, sondern darin, daß wir einen loyalen Bundesgenossen, für den wir keinen Ersatz finden würden, nicht im Stich lassen dürfen.« Kanitz weiter: »Und wenn wir in einen Krieg verwickelt werden, geschieht es nicht wegen des lumpigen Stückes Küste am Adriatischen Meere, welches uns vollkommen gleichgültig sein kann, sondern es handelt sich darum, uns unseren Bundesgenossen im Dreibund zu erhalten; denn diese Bundesgenossenschaft ist für uns, wie die Dinge einmal liegen, eine Lebensfrage, eine Existenzfrage.«147

      Ab 3. Dezember 1912 schwiegen die Waffen auf dem Balkan, und es begannen schwierige Friedensverhandlungen. Für das makedonische Gebiet zeichneten Bulgarien, Griechenland und Serbien als Teilungsmächte. Diese Teilung ist bis heute umstritten. Auch die Friedensverträge der nachfolgenden beiden Weltkriege revidierten das Ergebnis nicht.

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      Dreh- und Angelpunkt der Kriegsschulddiskussion ist der 2. Dezember 1912, wo das Deutsche Reich angeblich den Krieg beschlossen hat. Die Notizen Wilhelms II. im Brief von Botschafter Lichnowsky an Kanzler Bethmann Hollweg geben die damals herrschende Stimmungslage wieder und lassen eine andere als die allgemein übliche Interpretation zu (Abschrift vom Original, handschriftliche Anmerkungen Wilhelms an der linken Seite transkribiert) (© Abb. 11)

      Die vom Reichskanzler am 2. Dezember 1912 im Reichstag gegebene Bündniszusicherung wurde von der britischen Regierung als bedrohlich eingestuft und veranlasste den Lordkanzler Richard Haldane, den deutschen Botschafter Lichnowsky ausdrücklich zu warnen: Großbritannien werde bei einem Einmarsch Österreich-Ungarns in Serbien kaum der »stille Zuschauer« bleiben können, man könne zudem keinesfalls eine neuerliche Niederwerfung Frankreichs dulden, falls Deutschland im Zusammenhang mit einem russisch-österreichischen Konflikt Frankreich angreifen würde.

      Als der Kaiser den Bericht zur Kenntnis nahm, soll er außer sich gewesen sein: »England wird aus Neid und Haß gegen Deutschland unbedingt Frankreich u(nd) Rußland gegen uns beistehen. Der eventuelle Existenzkampf, den die Germanen in Europa (Österreich, Deutschland) gegen die von Romanen (Galliern) unterstützten Slaven (Rußland) zu fechten haben werden, findet die Angelsachsen auf der Seite der Slaven. Grund: Neidhammelei, Angst unseres zu Großwerdens!«148 Unter dem Eindruck des Berichts aus London berief er am zweiten Advent für 11 Uhr eine Besprechung ein, die später von Bethmann Hollweg als »Kriegsrat« bezeichnet wurde – wohl deshalb, weil ausschließlich Militär anwesend war: Helmuth Graf von Moltke (Chef des Generalstabes), August von Heeringen (Chef des Admiralstabes), Alfred von Tirpitz (Staatssekretär im Reichsmarineamt) sowie Georg Alexander von Müller (Chef des Marinekabinetts).149

      Für den Chef des Marinekabinetts war das Ergebnis der Besprechung gleich null, da einem Kriegsentschluss keine konkreten Überlegungen über die diplomatischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Eröffnung des Krieges folgten.150 Dagegen wurde nach Meinung Fritz Fischers beim Kriegsrat definitiv beschlossen, den Krieg um die Vorherrschaft in Europa zu führen, nur der Zeitpunkt sei vertagt worden. Sein Eleve John C. G. Röhl fasste noch im Jahr 2008 die Diskussion wie folgt zusammen: »Heute steht die Hauptverantwortung der deutschen und österreichischen Regierungen für die Herbeiführung des großen Krieges im Juli 1914 nicht mehr in Frage, und auch der ›Kriegsrat‹ vom 8. Dezember 1912 steht nicht als unerklärliche und scheinbar folgenlose Entgleisung eines politisch bedeutungslosen und nicht ganz zurechnungsfähigen Monarchen da … die militärpolitische Besprechung jenes Sonntagsvormittags (lässt sich) reibungslos in einen Entscheidungsprozess betten, dessen Anfänge weit zurückreichten und der schließlich im Sommer 1914 in die Katastrophe des Weltkriegs münden sollte.«151

      Im Februar 1912 war der britische Lordkanzler Haldane nach seinem Berlin-Besuch mit der Erkenntnis nach London zurückgekommen, dass an der Spitze des Deutschen Reiches Chaos herrsche und eine zielstrebige Planung eines Hegemonialkrieges nicht zu erkennen sei. Wer mag der Wahrheit näher gekommen sein: der kritische Zeitzeuge oder ein nachgeborener Wissenschaftler, für den es anscheinend gar keinen Zweifel gibt? Denn Zweifel an den Ausführungen Röhls kommen erstaunlicherweise von seinem Cambridge-Kollegen Christopher Clark. Für ihn ist der von Wilhelm II. einberufene »Kriegsrat« nur die Reaktion auf die ententistische Balkanpolitik Großbritanniens. »Sie (die Beteiligten am ›Kriegsrat‹, Anm. d. Verf.) überlassen den Balkan den Russen. Sie lassen zu, dass an dieser geopolitischen Grenze eine Zündladung installiert wird. Damit schaffen sie die Verzahnung, die zum Weltkrieg führt.«152 Im Sinne der »Balance of Power« habe England bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Österreich immer als Stabilitätsfaktor in Europa gesehen. Nun sind sie bereit, so Clark, die Habsburger auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Diese Bereitschaft sei in St. Petersburg, Belgrad und Paris durchaus erkannt worden. Damit erlösche nicht nur die grundsätzliche Solidarität zwischen den Monarchien, sondern auch die Existenzberechtigung einer anderen Nation. Im Sinn dieser Politik finanzierte die Republik Frankreich die Rüstung der Monarchien von Russland und Serbiens, Clark zufolge ein riskantes Spiel: »Sie pumpen große Summen nach Serbien und machen es so zum östlichen Bollwerk der Entente-Mächte.«153

      In einem Geheimtelegramm vom 2. Januar 1913 informierte Alexander P. Iswolski, russischer Botschafter in Paris, seinen Londoner Kollegen Benckendorff über ein Gespräch mit dem französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré (1860–1934), der zugleich Außenminister war, über die serbische Forderung an Russland, Frankreich und England, Druck auf Bulgarien auszuüben. Nach Ansicht Poincarés »könnten im Hinblick auf die ganz bestimmte Erklärung Rumäniens, daß es im Kriegsfalle auf Seiten Österreichs stehen werde, die Mächte des Dreiverbandes den erbetenen Dienst nur unter der Bedingung leisten, daß Rumänien seinerseits ihnen positive Garantien gebe, … neutral zu bleiben«.154 Bei einer Zusage seien die drei Mächte bereit, »die Initiative zu Schritten zu ergreifen, um von der Pforte die Abtretung Adrianopels zu erwirken.«155 Für diesen der Großmächte unwürdigen Kuhhandel hatte Poincaré – von seinem Botschafter Bompard aus Konstantinopel informiert – schon klare Vorstellungen: Ein internationales Geschwader solle im Bosporus Flagge zeigen. Die »Pforte« hätte dann genügend Gründe, um das Nachgeben zu rechtfertigen.

      Am 8. Januar instruierte der russische Außenminister Sergej Sasonow seinen Botschafter in London, Alexander K. Benckendorff, über ein weiteres Gespräch von Iswolski mit Poincaré: Nach französischer Auffassung sollte »Serbien von der Notwendigkeit, das adriatische Ufer zu räumen, erst nach Beendigung der Arbeiten der Konferenz und nach Entscheidung aller übrigen Fragen unterrichtet werden«.156 Poincaré fürchtete, dass sonst die Erbitterung Serbiens über die Mächte des Dreiverbandes noch zunehmen werde.

      Das Gespräch Iswolskis mit Poincaré muss einige Tage zurückgelegen haben, denn am 8. Januar erklärte die königliche serbische Gesandtschaft in einer Note an Sir Edward Grey offiziell,