Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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das sie gar nicht besaßen!

      Mittels einiger Konzessionen in Persien und auf dem Balkan söhnte sich Eduard auch mit dem Zaren aus, um anschließend Italien vom Dreibund abzusprengen und in Ungarn den Hass gegen Deutschland anzustacheln. Und schließlich wurden die Jungtürken – eine nationalistisch-reformistische Bewegung – durch Geld und Ratschläge ermuntert, den Kaiserfreund Abdul Hamid vom Thron zu jagen. All diese Vorgänge führten im wachsamen Berlin zur Verstärkung des deutschen Flottenbauprogramms.

      Fast ein Jahr später, am 8. April 1904, unterzeichneten der britische Außenminister Lansdowne und der französische Botschafter Paul Cambon den als »Entente cordiale« bekannt gewordenen Vertrag, der die traditionelle Rivalität beider Länder beendete. In Übereinstimmung wurde neben wechselseitigen Gebietsansprüchen in Neufundland, Madagaskar, den Neuen Hebriden und Siam (Thailand) vor allem die britische Herrschaft in Ägypten und im Sudan festgeschrieben. Im Gegenzug gestand Großbritannien Frankreich zu, sein afrikanisches Kolonialreich bis über das Kongobecken und über die Sahara hinaus auszudehnen und sich – im Widerspruch zur Konvention von Madrid – in Marokko auszubreiten.111 Diese Konvention vom 3. Juli 1880 war zwischen dem Sultan von Marokko und den Staaten Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande und USA geschlossen worden; sie sicherte die Unabhängigkeit und den Besitzstand Marokkos sowie die dortigen Rechte der Ausländer. Italien hatte Frankreich bereits Ende 1902 seinen Segen dafür gegeben, im geeigneten Augenblick in Marokko seine »Einflusssphäre« frei auszudehnen. Im Gegenzug bekam Italien Tripolis und die Cyrenaika im östlichen Libyen. Nicht zu Unrecht fasste Paris den Vertrag als ein italienisches Neutralitätsversprechen für den Fall eines deutsch-französischen Krieges auf. Das war das faktische Ende des Bismarck’schen Dreibundes – Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Nach der Allianz mit Russland112 hatte Frankreich nun eine zweite Bresche in das Bollwerk Bismarcks geschlagen.

      Noch vor Abschluss der Entente hatte England seinen Bündnispartner Japan zu einem Gewaltakt gegen Russland in Asien ermuntert. Ohne Kriegserklärung wurde daraufhin der einzige eisfreie Hafen Port Arthur erobert und die dort liegende russische Flotte versenkt (ähnlich wie später in Pearl Harbor die amerikanische). England wollte Indien sichern, und Japan hatte mit Russland seit dem Krieg gegen China 1894-95 noch eine Rechnung offen. Im weiteren Verlauf wurde die russische Armee bei Mukden vernichtend geschlagen und Flotteneinheiten bei Tsushima versenkt. Der klägliche Zusammenbruch vor Japans Waffen entfesselte schließlich die Unzufriedenheit des russischen Volkes. Die Folge: Streiks, Unruhen und Erhebung der unterdrückten Nationalitäten – die Vorläufer der späteren Sowjets beanspruchten die Regierungsgewalt.

      Marokko war seit der Kolonisierung Algeriens unter immer stärkeren französischen Druck geraten. In klarer Verletzung des Völkerrechts und mit Billigung Englands begann Frankreich 1905 mit der als »friedliche Durchdringung« bezeichneten Kolonisierung des Sultanats.113 Nicht zuletzt mögen auch die reichen Erzvorkommen des Landes eine Rolle gespielt haben, um sie stritten sich deutsche und französische Rüstungskonzerne.114 Das brüskierte Deutschland115 versuchte, die Stellung des Sultans zu stärken. Reichskanzler von Bülow erweiterte daher die geplante Erholungsreise des Kaisers im Mittelmeer um einen Besuch des Sultans in Tanger. Der Kaiser erkannte die Gefahr, »dass dieser Besuch bei der Lage der Dinge in Paris als Provokation aufgefasst werden könnte und in London die Geneigtheit zur Unterstützung Frankreichs im Kriegsfalle bewirken würde«116, gab aber schließlich nach.

      Wie erwartet, erhob sich lautes Protestgeschrei, die englische und französische Presse bezeichnete den deutschen Kaiser als Provokateur und Friedensstörer. Dabei war es nach unwidersprochenen Berichten französischer Zeitungen Ministerpräsident Maurice Rouvier, der beim Kriegs- und Marineminister nachgefragt hatte, ob Frankreich kriegsbereit sei. Und Außenminister Théophile Delcassé (1852–1923), der seine antideutsche Politik in Übereinstimmung mit dem englischen Kabinett betrieb, erklärte im Ministerrat, England habe für den Kriegsfall angeboten, mit 100 000 Mann in Holstein zu landen und den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen.117 Der Journalist und Volkswissenschaftler Francis Delaisi zählt die Aktionen des chauvinistischen Ministers auf: »Er versuchte Italien vom Dreibund abzusprengen, unterhandelte in Petersburg, intrigierte in Konstantinopel und legte es darauf an, das isolierte Deutschland durch England und Frankreichs Unterstützung vernichten zu lassen.«118

      Nachdem Wilhelm II. gegenüber der französischen Regierung sein Befremden bekunden ließ, fand im Elysée-Palast ein denkwürdiger Ministerrat statt. Rouvier verlangte von Delcassé sofortige Aufklärung. Delaisi berichtet: »Während zweier Stunden setzte damals der kleine Mensch seinen überraschten Kollegen seine Intrigen auseinander und drang schließlich kalten Bluts auf die Fortsetzung seiner Politik ›der Einkreisung‹, auf eine Militärallianz mit England und auf den Krieg gegen Deutschland.«119 Von der geringen Bedeutung der Marokkokrise überzeugt, war die einmütige Antwort des Kabinetts die Entfernung des für den Frieden gefährlichen Außenministers. Damit normalisierten sich die Beziehungen zu Berlin allmählich. Auch das Verhältnis zu den Briten wurde wieder freundschaftlicher.

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      Das einzige Bild, das Wilhelm II. mit dem jungen Churchill zeigt. Hier nimmt der Brite in der Uniform eines Hauptmanns der Reserve im 5. Britischen Husarenregiment an den Kaisermanövern von 1906 teil (© Abb. 9)

      1909 wohnte der junge Winston Churchill deutschen Kriegsmanövern bei. Zurück in England beschrieb er des Kaisers Rastlosigkeit: »Alles, was er wollte, war, sich wie Napoleon zu fühlen, ohne dessen Schlachten schlagen zu müssen.«120 Später wird Churchill Wilhelm II. als expansionslüsternen preußischen Kriegshetzer bezeichnen. Die deutschen Heere hatten seit 1871 nicht mehr gekämpft (mit Ausnahme des Herero-Hottentotten-Aufstandes). Im Vergleich zu Wilhelm II., der selbst nie an einer Schlacht teilgenommen hatte, war der junge Churchill ein ausgefuchster Kriegsveteran. Hier wird deutlich, wie grundverschieden die beiden waren: Während der von Geburt an durch einen verkümmerten Arm behinderte Wilhelm II. lediglich die heroische Pose liebte, aber als Friedenskaiser in die Geschichte eingehen wollte, war Churchill ein alter Haudegen, der sich wenig um die Verheerungen eines Krieges kümmerte. Patrick J. Buchanan fasst zusammen: »Er hatte Sir Bindon Blood auf seinem Feldzug in Nordwestindien begleitet. Er hatte zu Herbert Kitcheners Kavalleristen gehört, die bei Ondurman die Derwische niedermetzelten. Er war in den ersten Tagen des Burenkrieges in einem gepanzerten Zug gefangengenommen worden, aus der Gefangenschaft entflohen und mit dem britischen Heer nach Ladysmith marschiert, um den burischen Belagerungsring zu sprengen. So wie Großbritannien im Jahrhundert vor Sarajewo weit mehr Kriege ausgefochten hatte als Deutschland, hatte Churchill persönlich mehr Pulver gerochen als jeder Soldat der Preußisch-deutschen Armee.«121

      Mit dem Einmarsch französischer Truppen unter General Charles Moinier in Marokko am 21. Mai 1911 und der Besetzung von Fès und Rabat begann die zweite Marokkokrise. Unverzüglich versetzte Spanien seine Truppen in Alarmbereitschaft, da es sich durch die militärische Präsenz Frankreichs im Nachbarland in seinen Interessen bedroht sah. Desgleichen baten deutsche Firmenhäuser im Süden Marokkos um Hilfe. Am 1. Juli wurde in der Wilhelmstraße der Marschbefehl für das Kanonenboot Panther unterschrieben.122

      Die Franzosen erkannten sehr schnell, dass Deutschland es trotz aggressivem Vorgehens und ebensolcher Rhetorik nicht auf einen Krieg gegen Frankreich und Großbritannien ankommen lassen würde. In den Verhandlungen zwischen dem deutschen Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Waechter und dem französischen Botschafter Jules Cambon wurden deshalb nur unbedeutende mittelafrikanische Kompensationen angeboten.123 Das im Marokko-Kongo-Abkommen erreichte Resultat wurde in der deutschen Presse und Öffentlichkeit enttäuscht als Niederlage, als »neues Olmütz«, aufgenommen.124

      Der Erfolg Frankreichs in Marokko weckte Gelüste in Rom. Aufgrund der Verarmung der italienischen Bevölkerung waren allein zwischen 1901 und 1911 etwa 1,6 Millionen Italiener nach Südamerika und in die Vereinigten Staaten ausgewandert.125 In den zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Tripolitanien und Cyrenaika sahen vor allem nationalistische Intellektuelle die Lösung der sozialen Probleme Italiens. Die Idee einer kolonialen Expansion